Die dritte Sünde (German Edition)
ihrem Beisein nie auch nur eines Blickes gewürdigt. Stattdessen aber hatte er ihr selbst in den letzten Tagen immer wieder gezeigt, dass er sich für sie interessierte. Daran bestand kein Zweifel. Dass er Cathy, die unscheinbare graue Cathy, ihr vorzog, war lächerlich. Außerdem wäre ihrem Vater ein wie auch immer geartetes und auch völlig unwahrscheinliches Interesse seines Stallknechts für Cathy Thomson sicher äußerst gleichgültig. Sie beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber sie würde sicherheitshalber darauf achten, dass Cathy keine Gelegenheit mehr bekommen würde, um Aaron Stutter herumzuschleichen.
»Nun gut, Cathy!«, meinte sie schließlich in ruhigerem Ton, »dann will ich dir noch einmal glauben und von einer Bestrafung Aarons absehen, aber dich will ich keinesfalls mehr unten im Hof sehen. Du bleibst hier oder in deiner Mansarde. Und wenn du mich in den Stall begleitest, wirst du dich ausdrücklich von Aaron Stutter fernhalten, genauso wie du dich sonst unterstehen wirst, mit ihm zu sprechen. Das wird mir zu Ohren kommen, ich warne dich!«, fügte sie drohend an. Zufrieden stellte sie fest, dass Cathy gehorsam und recht eingeschüchtert nickte. »Ruby, du hast es gehört. Du wirst aufpassen, dass Cathy keine Dummheiten mehr macht«, wandte sie sich an die bisher stumme, aber umso schadenfrohere Zeugin der Auseinandersetzung. »Und nun geht! Beide!«, herrschte sie die Zofe und Cathy, die mit hängendem Kopf dastand, an: »Ich will vor allem dich, Cathy, heute nicht mehr sehen. Ich habe ein für alle Mal genug von dir und deinen Frechheiten.«
Vor der Tür zu Isobels Zimmer sagte Ruby, der die Zufriedenheit über diese Entwicklung ins Gesicht geschrieben stand: »Nun, Cathy Thomson, jetzt bist du wohl die längste Zeit das verwöhnte Schoßhündchen von Miss de Burgh gewesen. Das wurde auch langsam Zeit. Ich kann dir jetzt schon sagen: Es werden sich alle auf Whitefell freuen, das zu hören.«
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In dieser Nacht schlief Cathy sehr schlecht. Mehrmals schreckte sie hoch, von Albträumen geplagt, in denen ihr zähe, schwarze Schlammmassen in Mund und Nase drangen und sie zu ersticken drohten. Der Regen, der am Morgen eingesetzt hatte, prasselte auch in der Nacht unaufhörlich auf das Mansardendach. Schlaflos starrte Cathy auf das Rechteck des Dachfensters, das sich in einem nur unwesentlich helleren Grau von der Schwärze des zugigen und leider inzwischen auch etwas undichten Daches Whitefells abhob.
Das hatte sie nun davon, dass sie sich einige wenige Tage ein paar Freiheiten gegönnt hatte. Isobel misstraute ihr und hatte sie buchstäblich weggesperrt. Zudem schmerzte sie Rubys Gehässigkeit. Am liebsten hätte sie sich ganz in ihrer Mansarde verkrochen und wäre überhaupt nicht mehr hinuntergegangen. Sie fürchtete sich vor den boshaften und schadenfrohen Blicken der anderen Bediensteten – und dann war da noch Aaron. Was sollte sie tun, wenn sie ihm noch einmal begegnete? Er würde bestimmt mit ihr sprechen wollen und das würde umgehend Isobel zugetragen werden. Die Folgen waren nicht auszudenken. Vielleicht sollte sie einfach davonlaufen? Möglicherweise konnte sie mit großem Glück irgendwo Arbeit finden. Vielleicht in Wilton in den Webereien, obwohl diese, wie sie zu verschiedenen Gelegenheiten den Gesprächen des Herrn abgelauscht hatte, mehr und mehr Probleme hatten, der Konkurrenz aus dem Ausland und vor allem aus dem billiger und effizienter produzierenden Norden Herr zu werden. In Wilton wurden eher Arbeitskräfte abgebaut als eingestellt. Ob sie versuchen sollte, sich in den Norden in die Industriestädte durchzuschlagen? Doch das war völlig unmöglich. Wie sollte sie, als alleinstehendes junges Mädchen ohne einen Farthing [6] in der Tasche, überhaupt irgendwo hingelangen? Sie verwarf den Gedanken. Es war sinnlos wegzulaufen. Sie würde eben einfach noch einige Tage aushalten, bis Isobel endlich nach London ging. Das musste doch zu schaffen sein. Sie hoffte sehr, Mr de Burgh, der ihr nicht ablehnend gegenüberstand, dazu bewegen zu können, ihr einen Platz als Dienstmagd in einem anderen größeren Haus zu verschaffen. Das war der einzig gangbare und auch beste Weg. Und sollte ihr Aaron begegnen – obwohl sie sich fest vornahm, ihm auf alle Fälle aus dem Weg zu gehen – würde sie ihm deutlich zu verstehen geben müssen, dass sie nicht mit ihm sprechen durfte … zu seinem eigenen Besten. Er würde es sicher nicht verstehen, aber sie hatte keine andere Wahl.
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