Die dritte Sünde (German Edition)
Plötzlich wurden ihre Augen feucht. Aaron war einer der wenigen, wenn nicht der erste Mensch, der seit dem Tag von Billies Unfall freundlich zu ihr gewesen war, der ihr für einige kurze Augenblicke Wärme und Zärtlichkeit gegeben hatte! Die Erinnerung an die sanfte Berührung seiner Lippen nahm ihr kurz den Atem. Und nun musste sie ihn vor den Kopf stoßen, weil es Isobel so wollte. Wieder einmal griff Isobel de Burgh mit machtvoller Hand in ihr Leben und veränderte es nicht zum Guten, aber was konnte sie dagegen tun? Sie war machtlos und unbedeutend – Cathy Thomson, die verstoßene Tochter eines gewöhnlichen Landarbeiters! Sie musste froh sein, dass sie noch ein Dach über dem Kopf hatte. Entschlossen schüttelte sie ihr Kissen zurecht, um sich wenigstens noch eine halbe Wache [7] Schlaf zu gönnen. Sie würde es schon schaffen bis zu Isobels Abreise, wenn sie sich bemühte und sich nicht nutzlosem Selbstmitleid ergab. Was hätte das auch für einen Sinn gehabt? Auf Selbstmitleid hatte sie, Cathy Thomson, ohnehin seit fünf Jahren kein Anrecht mehr.
Kapitel 20
Am Morgen und auch zum Lunch schaffte sie es zu ihrer Erleichterung, den meisten Bewohnern von Whitefell und vor allem Aaron aus dem Weg zu gehen. Allerdings war die unvermeidliche Häme der Küchenmägde, die auf sie herniederprasselte, kaum zu ertragen. Ruby hatte natürlich umgehend berichtet und noch voller Genugtuung entsprechend ausgeschmückt, was sich in den Räumen von Miss de Burgh zugetragen hatte. Das erzeugte angesichts der Eifersucht darüber, dass ausgerechnet Cathy Thomson sich dem begehrenswerten Aaron Stutter an den Hals geworfen hatte, eine erhebliche Gehässigkeit. Wenn Mrs Reed den Mägden nicht endlich Einhalt geboten hätte, wäre Cathy wohl kaum mit heiler Haut aus der Küche gekommen. Sie brachte es, den Tränen nahe, kaum fertig, in ihrer Schlafecke unter dem Dach das Essen hinunterzuwürgen, wusste aber, dass es ihr in ihrer Lage auch nicht weiterhalf, wenn sie begann zu hungern. Auch Isobel war durch die Geschehnisse immer noch verstimmt und strafte sie mit Missachtung. Um die Teezeit herum gab die erheblich Erzürnte es aber auf, da ihr das im Damensalon wie eine dunkle Wolke hängende Schweigen selbst lästig wurde. Sie begann Cathy herumzukommandieren, befahl ihr die Stickarbeit, die sie selbst gerade mit äußerst mäßigem Erfolg anfertigte, auszubessern und die zahlreichen Knoten und Fehlstiche zu lösen, und hackte so lange auf ihrem Opfer herum, bis es endlich Zeit zum Dinner war und Cathy somit aus der Tortur entlassen wurde. Erschöpft stieg Cathy in ihre Mansarde hinauf. Weiß Gott, diesen Kuss von Aaron Stutter bezahlte sie teuer! Ob sie noch die Kraft finden würde, sich erneut dem Spießrutenlauf in der Küche zu stellen? Unschlüssig stand sie im Dämmerlicht unter dem Dach. Vielleicht war Hungern doch die bessere Idee? Doch wenn sie jetzt nicht hinunterging, würde es morgen nur noch schwerer werden. Sie durfte jetzt nicht nachgeben! Sie atmete einige Male tief durch und ging dann gefasst hinunter zu den Gesinderäumen. Sie würde sich einfach rasch etwas zu essen nehmen und dann so schnell wie möglich wieder verschwinden.
In der geräumigen Küche nahmen schon die Küchenmägde, drei der Zimmermädchen und die Gärtner, einige der Hofknechte und weitere Bedienstete die wichtigste Mahlzeit des schweren Arbeitstages ein, als Cathy den Raum betrat. Das weitere Personal, wie die Lakaien, die jetzt auch noch nach dem Dinner der Herrschaften Dienst zu verrichten hatten, aß für gewöhnlich erst deutlich später, wenn alle Arbeit getan und die Herrschaft bedient war. Das Gespräch wurde augenblicklich merklich leiser und unwirsche Blicke folgten Cathy, als sie ohne ein Wort und ohne den Blick zu heben eine Essschale ergriff, zum Herd hinüberging und sich ein paar Kartoffeln nahm, die wie immer zum reichhaltigen Eintopf für die Bediensteten gedünstet worden waren. Auch etwas Milch, die wie Eier und Fleisch von den etwas entfernter vom Haupthaus liegenden Nutztierställen geliefert worden war, goss sie hastig dazu. Nur schnell wieder hinauf, bevor noch jemand das Wort an sie richtete! Als sie die Hand auf die Klinke der schweren Küchentür legte, hörte sie, wie jemand seinen Schemel zurückschob und schnellen Schrittes zu ihr hinüberkam. Hastig beeilte sie sich hinauszukommen. Doch sie war nicht schnell genug.
»Cathy, was ist denn nur los?«
Es war Aaron! Sie keuchte auf vor Schreck. Warum hatte sie ihn
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