Die dritte Sünde (German Edition)
Schritt und Tritt begleitete und mit seiner besitzergreifenden Präsenz sicher den einen oder anderen aussichtsreichen und interessanten Kandidaten abgeschreckt hatte. Mehr als einmal hatte sie beobachtet, dass junge Männer, die sie zum Tanze auffordern wollten, wieder kehrtmachten, als sie Havishams grimmigen Gesichtsausdrucks ansichtig wurden. Es war wirklich unerträglich! Auch verstand sie nicht, dass ihr Vater dies duldete. Lag ihm denn nicht selbst daran, dass sie nicht nur einen gut aussehenden, sondern auch vermögenden und am besten adeligen jungen Mann einfangen konnte und so lange, bis ihr das gelang, das gesellschaftliche Leben in vollen Zügen genoss? Sie verstand ihren Vater wirklich nicht, der sie sonst immer buchstäblich angebetet hatte. Nicht nur, dass er es gewagt hatte, ihr heftige Vorwürfe wegen der Schneiderarbeit für die Krönungszeremonie zu machen, die zugegebenermaßen auch eine Summe kostete, die sie selbst hatte erbleichen lassen. Er drängte sie auch immer wieder dazu, sich um Mr Havisham zu bemühen. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass er eine Verbindung zwischen ihr und diesem Kaufmann anstrebte. Ein absurder Gedanke! Das war nicht nur lächerlich, sondern auch geradezu eine Beleidigung. Sie, Isobel de Burgh, hatte es sicher verdient, dass ihr die Männerwelt zu Füßen lag und sie aus einer angemessenen Anzahl von Bewerbern frei wählen konnte.
Sie sollte doch weit entfernt von den jämmerlichen Aussichten zum Beispiel Mary-Anns sein, die sich inzwischen rettungslos in den trostlosen, sterbenslangweiligen und überdies nachthässlichen Mr Godfrey Fountley verliebt hatte. Aber immerhin war diese ja selbst keine Schönheit, und so war der tapsige und seltsamen politischen Ansichten zugeneigte junge Adelige wohl die beste Wahl, die sie treffen konnte. Der Earl war jedenfalls nicht sehr glücklich über die sich anbahnende Verbindung, hatte sich aber schließlich dem Rat seiner Frau angeschlossen, die vorbrachte, dass Mr Fountley immerhin einen Baronatstitel in Aussicht hatte, dazu ein akzeptables Vermögen, und dass es auch für Mary-Ann höchste Zeit war, wollte sie nicht als übrig gebliebenes spätes Mädchen enden. Für Florence, die man bereits als ein solches bezeichnen musste, würde sich wahrscheinlich nur mit äußerster Mühe noch jemand finden, und so wäre es ratsam, von der statthaften üblichen Reihenfolge abzusehen.
Mit boshaftem Vergnügen erinnerte sich Isobel daran, dass Florence bei diesen wenig zartfühlenden Worten ihrer eigenen Mutter hochrot angelaufen und dann schluchzend aus dem Zimmer gerannt war. Am nächsten Morgen hatte die Köchin einen Wirbel veranstaltet, weil aus der Speisekammer unter mysteriösen Umständen eine für die nächste Abendgesellschaft bereitete Schokoladenpastete verschwunden war und Lady Branford in erstaunlicher Ignoranz der nur zu offensichtlichen Fresslust ihrer Tochter fälschlicherweise das Dienstpersonal beschuldigte, sich daran vergriffen zu haben. Isobel hatte sich darüber ausschütten wollen vor Lachen, was ihr allerdings einen strafenden Blick ihres ohnehin zurzeit wenig umgänglichen Vaters eingebracht hatte.
Doch dies alles interessierte sie eigentlich nicht wirklich. Was ging sie die lächerliche Florence an, die überdies weiterhin von diesem grotesken Künstler träumte. Das hatte sie erfahren, als sie heimlich ein Gespräch der beiden Schwestern belauschte. Isobel hatte sich dagegen fest vorgenommen, ihrem Vater gründlich die Meinung zu sagen, sollte er sie weiterhin nötigen, sich in die ungeliebte Gesellschaft Mr Havishams zu schicken. Sie hatte das wirklich bis zum Überdruss satt. Mr Havisham stand ihren amourösen Zielen mehr als im Weg und die Zeit ihres Aufenthaltes in London neigte sich bereits dem Ende zu. Schon in acht Tagen war die Krönung Victorias und wie lange sie dann noch in London bleiben konnte – und vor allem, wie lang der Adel es noch in dieser drangvollen Enge in der Stadt auszuhalten gedachte –, konnte niemand genau wissen. Schon jetzt machte sich eine gewisse gereizte Nervosität in der Stadt breit, die sicher den enormen Menschenmassen und den damit einhergehenden Unannehmlichkeiten wie Gedränge, Versorgungsengpässe, Kutschenunglücke und anderem geschuldet war.
Doch nun musste sich zunächst einmal Margret ihrer Frisur widmen, was noch mindestens zwei Stunden in Anspruch nehmen würde. Es war keine Zeit mehr zu verlieren.
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Pünktlich zur fünften Wache trat Isobel
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