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Die dritte Todsuende

Die dritte Todsuende

Titel: Die dritte Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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verlieh.
    Sie ging langsam die Madison Avenue hinunter, immer noch mit einem leichten Hinken, obwohl der Schnitt am Schenkel gut heilte. Everett Pinckney hatte sich mitfühlend nach dem Grund ihres Hinkens erkundigt, und sie hatte angegeben, sich den Knöchel verstaucht zu haben, was er auch glaubte.
    Sie kam an einem Zeitungsstand vorbei und sah, daß die Schlagzeilen immer noch dem Mord im Hotel Adler galten. Sie war nicht überrascht gewesen, als sie gelesen hatte, daß das Opfer polizeibekannt war. Einer der Kolumnisten hatte ihn einen »ruchlosen Burschen« genannt. Mit diesem Urteil stimmte Zoe Kohler völlig überein.
    Zwei Tage nach der Bluttat hatte die Polizei bekanntgegeben, daß es sich bei dem Hotel-Ripper definitiv um eine Frau handelte. Die Medien hatten sich vor Begeisterung fast überschlagen, die Berichterstattung über die Story ausgeweitet und durch Interviews mit Psychologen, Kriminologen und Feministinnen ergänzt.
    Mindestens drei Zeitungskolumnistinnen und eine Fernsehreporterin hatten die Täterin innigst angefleht, mit ihnen persönlichen Kontakt aufzunehmen, damit sie teilnahmsvolles Verständnis und professionelle Hilfe erhielt. Eine Boulevardzeitung hatte ihr 25000 Dollar angeboten, wenn sie sich der Zeitung stellte und ihre Lebensgeschichte erzählte.
    Noch erstaunlicher fand Zoe Kohler eine Kurzmeldung, daß die New Yorker Polizei an einem einzigen Tag die Aussagen von dreiundvierzig Frauen erhalten hatte, die alle behaupteten, der Ripper zu sein. Jedes dieser »Geständnisse« war überprüft worden, und alle hatten sich als falsch herausgestellt.
    Zoe hatte Mr. Pinckney gefragt, wie die Polizei so sicher sein konnte, daß der Ripper eine Frau sei. Er erwiderte, daß sie offenbar hieb- und stichfestes Beweismaterial hätten. Blutflecken, zum Beispiel. Heutzutage könnte man mit einer Blutuntersuchung fast alles herausfinden.
    Barney McMillan deutete schmierig an, daß auch die Ergebnisse der Autopsie ausschlaggebend gewesen sein könnten, nach denen das Opfer Geschlechtsverkehr gehabt hatte, bevor es umgebracht worden war.
    »Wahrscheinlich hat er einen glücklichen Tod gehabt«, sagte McMillan.
    Es beunruhigte Zoe Kohler nicht sonderlich, daß sich die polizeilichen Ermittlungen jetzt ganz auf einen weiblichen Täter konzentrierten. Auch die Tatsache, daß jetzt scheinbar in jeder Cocktail-Lounge in Manhattaner Hotels Kriminalbeamte in Zivil postiert waren, alarmierte sie kaum. Sie dachte vage, daß es vielleicht nötig werden könnte, ihre Abenteuer in einer weiter entfernten Gegend zu suchen.
    Bis jetzt hatte sie immer Glück gehabt, in erster Linie wegen ihrer sorgfältigen Planung. Es erheiterte sie, daß sie soviel Furcht und Aufregung verursacht hatte. Mehr noch, die Tatsache, daß sie allein Bescheid wußte, bescherte ihr ein beinahe physisches Vergnügen und eine Selbstachtung, wie sie sie nie zuvor empfunden hatte.
    All diese Zeitungsartikel, all diese Fernsehsendungen drehten sich um sie. Ihr Gefühl hätte man beinahe als Stolz bezeichnen können, und mit ihrer neuen Frisur schritt sie jetzt, ihrem Hinken zum Trotz, aufrecht dahin, mit hocherhobenem Kopf, ein Leuchten in den Augen. Sie fühlte sich als Königin der Stadt.
    Sie blieb vor den Schaufenstern eines Geschäfts für Kinderbekleidung stehen. Alles war so jung — so unschuldig. Sie konnte sich gut daran erinnern, daß auch sie so sauber und fleckenlos angezogen gewesen war: gestärkter, frischgewaschener Stoff auf ihrer Haut, so neu, daß er noch raschelte.
    »Du mußt wie eine kleine Dame aussehen«, hatte ihre Mutter gesagt. »Und schau dir nur diese wunderschönen weißen Handschuhe an.«
    »Du mußt dich immer rein und sauber halten«, hatte ihre Mutter gesagt. »Du darfst nie laufen. Versuche, nicht zu transpirieren. Bewege dich immer langsam und graziös.«
    »Eine kleine Dame hört stets zu«, hatte ihre Mutter gesagt. »Eine kleine Dame spricht leise und vornehm und drückt sich deutlich aus.«
    Also ging Zoe Schlammpfützen aus dem Weg und erlernte die Geheimnisse der Küche. Sie machte jeden Abend ihre Hausaufgaben und wurde dafür mit guten Zeugnissen belohnt. Alle Freunde ihrer Eltern wurden nicht müde, sie als Musterkind zu bezeichnen.
    »Eine echte kleine Dame.« Das sagten alle Erwachsenen über Zoe Kohler.
    Der Anblick dieser makellosen Kleider im Schaufenster eines Geschäfts an der Madison Avenue rief ihr alles in Erinnerung: die fleckenlose Sauberkeit ihres Elternhauses, die gestärkten Kleider,

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