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Die dritte Todsuende

Die dritte Todsuende

Titel: Die dritte Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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die sie getragen hatte, die Reinheit ihrer Kinderzeit. Jugend ohne Makel…
    Am Abend des 14. Juni, einem Samstag, aß Zoe mit Ernest Mittle im Speisesaal des Hotels Gramercy Park zu Abend. Sie waren überrascht, als sie feststellten, daß sie die jüngsten Gäste des gediegenen Hauses waren.
    Zoe Kohler blickte sich um und sah Ernest und sich in zwanzig Jahren und fand Trost darin. Gepflegte Frauen und ehrbare Männer. Würde und Anstand. Leise Stimmen und unauffällige Gesten. Wie konnte es nur Menschen geben, die die Wohltaten der Zivilisation ablehnten?
    Sie blickte den Mann auf der anderen Seite des Tisches an und war zufrieden. Höflichkeit und Güte waren noch nicht tot.
    Ernest trug einen marineblauen Anzug, ein weißes Hemd und einen kastanienbraunen Schlips. Sein dünnes, flachsfarbenes Haar war sorgfältig gebürstet. Wangen und Kinn waren so weich und so hell, als wären sie nie mit einem Rasierapparat in Berührung gekommen.
    Er erschien Zoe so mild und sanft. Fast hatte er etwas Durchsichtiges an sich, eine unbeirrte und unbeirrbare Unschuld. Sorgfältig strich er Butter auf eine kleine Scheibe Brot und biß dann mit strahlenden Zähnen hinein. Seine Hände und Füße waren klein. Er war geradezu ein Miniaturmann, gemalt mit einem hauchdünnen Pinsel, aufs äußerste verfeinert.
    Nach dem Essen gingen sie noch auf einen Strega in die halbdunkle Bar. Hier war die Atmosphäre etwas lockerer. Die Gäste waren jünger und lauter, gelegentlich brandete Gelächter auf.
    »Was möchtest du jetzt gern machen, Zoe?« fragte Ernie. Er hielt ihre Hand und streichelte sie sanft. »Möchtest du ins Kino? In einen Nightclub? Oder möchtest du irgendwo tanzen gehen?«
    Sie überlegte einen Moment. »Eine Disco. Ernie, können wir in eine Disco gehen? Wir müssen ja nicht tanzen. Nur ein Glas Wein trinken und schauen, was da los ist«
    »Warum nicht?« sagte er brav, und sie mußte an ihr Goldkettchen denken.
    Eine Stunde später saßen sie an einem winzigen Tisch in einem scheunenartigen Raum an der East 58th Street. Sie waren die einzigen Gäste, obwohl flackernde Lichter durch den Raum zuckten und Musik in einer solchen Lautstärke aus einem Dutzend Lautsprecher donnerte, daß die Wände zitterten.
    »Du wolltest sehen, was hier los ist?« rief Ernest lachend. »Nichts ist hier los!«
    Aber sie waren nur früh dran. Eine Stunde später, als sie auf ihre dritte Runde Weißwein zusteuerten, war die Diskothek halbvoll, die Tanzfläche füllte sich.
    Es war ein Fest. Ein Karneval! Was für Verkleidungen! Was für Kostüme! Nacktes Fleisch und glitzernder Flitterkram, ein Kaleidoskop von Farben, die den Augen weh taten. All diese zuckenden Körper, für Sekunden erstarrt im Lichterblitz. Die jagenden Rhythmen! Der Geruch nach Parfüm und Schweiß.
    Zoe Kohler und Ernest Mittle blickten sich an. Jetzt waren sie die Ältesten im Raum, Amboß für die kakophonische Musik, attackiert von den wilden, eindeutig sexuellen Verrenkungen auf der Tanzfläche. Es war nicht einfach eine jüngere Generation, die da vor ihren Augen tanzte; sie beobachteten eine völlig neue Welt.
    Da war eine Frau, deren Brüste frei und ungehindert unter einem extrem kurzen Hemd schwangen. Da ein Mann, dessen Genitalien sich deutlich unter einer hautengen Hose aus rosa Satin abzeichneten. Nackte Hälse, Arme, Schultern, Nabel. Hot Pants, Miniröcke, Vinylstiefel. Hintern, Titten, Schwänze.
    Zupackende Hände. Gleitende Hände. Stoßende Hüften. Geöffnete Schenkel. Streichelnde Finger. Keuchende Kehlen und blitzende Zähne. Flackernde Zungen und wilde Augen. Ein Schäumen wogender Körper; der ganze Raum schien zu schaukeln, zu kippen.
    Alles kippte…
    »Laß uns tanzen«, brüllte Ernie ihr ins Ohr. »Es ist so voll, daß niemand uns bemerken wird.«
    Sie versuchten, sich im Rhythmus der Musik zu bewegen, aber die Körper, die gegen sie schleuderten, schüchterten sie ein. Sie schmiegten sich aneinander, taumelten hin und her, versuchten, die Balance zu halten, lachten nervös und hielten sich gegenseitig fest.
    Für einen Moment, einen einzigen Moment nur, waren sie eins, von den Knien bis zu den Schultern, miteinander verschmolzen. Zoe spürte, wie schmal und heiß sein Körper war. Sie zog sich nicht zurück, aber er. Langsam und unter großen Schwierigkeiten befreite er sie aus der stampfenden Menge und führte sie zurück an ihren Tisch.
    »Oh, wow«, sagte er, »was für ein Gedränge! Der reine Wahnsinn!«
    »Ja«, sagte sie. »Kann ich

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