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Die dritte Todsuende

Die dritte Todsuende

Titel: Die dritte Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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immer von oben nach unten verlaufen; sie hatte Zoe in die Form der Frau gegossen, die sie haben wollte. Sogar ihr Vater hatte sie durch seine überwältigende Präsenz zu Emotionen und Vorurteilen getrieben, die ihrer wahren Natur ganz und gar nicht entsprachen. Und dann ihr Mann! Er hatte sie nie akzeptiert.
    Ihr ganzes Leben lang hatte jedermann versucht, sie zu ändern.
    Ernest Mittle war offenbar zufrieden mit Zoe Kohler. Aber konnte sie sicher sein, daß er zufrieden bleiben würde? Würde er eines Tages nicht vielleicht auch anfangen, an ihr herumzuzerren, sie zu stoßen und zurechtzubiegen?
    Und all das, erkannte sie jetzt plötzlich, beinahe als wäre ein Vorhang beiseite gezogen worden, war der Grund für ihre Abenteuer. Sie allein boten ihr die Möglichkeit, sich selber auszuprobieren, ihrem eigenen Willen zu folgen.
    Sie wußte, daß andere — wie etwa Son of Sam — ihre Untaten mit »Stimmen« entschuldigt hatten, halluzinatorischen Befehlen, die ihre Anlagen und ihre Willenskraft überwältigten. Für Zoe Kohler aber waren ihre Abenteuer die einzigen Momente in ihrem Leben, in denen sie auf ihre eigene Stimme hörte.
    Sie drehte sich auf die Seite, rückte näher an Ernie heran. Sie spürte seinen süßen, unschuldigen Geruch. Sie legte einen Arm um ihn, zog ihn zu sich heran. Und so schlief sie ein.
    Während der folgenden Woche hatte sie genügend Anlaß, darüber zu reflektieren, wie sie ihr ganzes Leben lang immer wieder manipuliert worden war.
    Die Zeitungen berichteten weiterhin in allen Einzelheiten von den Ermittlungen. Beinahe jeden Tag gab die Polizei neue Erkenntnisse bekannt, neue Spuren, denen sie nachging.
    Zoe Kohler begann, sich die Polizei als eine einzelne Person vorzustellen, einen dünnen, großen Mann, griesgrämig und rechthaberisch, auf dessen Gesicht sich gehässige Unzufriedenheit malte.
    Dieser Mann, dieser »Polizei«, war blutleer und ohne Erbarmen.
    Er war intelligent (erschreckend sogar) und durch nichts zu besänftigen. Durch seine außergewöhnliche Kombinationsgabe stieß er Zoe Kohler in Richtungen, in die sie nicht gehen wollte. Er schob sie hin und her, genau wie jeder andere, und sie wehrte sich dagegen, daß irgend jemand in ihren Abenteuern, dem einzigen wirklich privaten Moment in ihrem Leben, herumpfuschte.
    Zum Beispiel veröffentlichten die Zeitungen eine Beschreibung der Täterin, soweit bekannt. Man nahm an, daß sie einen Meter fünfundsechzig bis einen Meter siebenundsechzig groß war, Schuhe mit sehr hohen Absätzen trug, schlank war, sich unter einer schulterlangen Perücke versteckte und einen Trenchcoat anhatte.
    Darüber hinaus trug sie ein Goldarmband mit der Aufschrift Warum nicht?. Das letztemal sollte sie ein engsitzendes Kleid aus flaschengrüner Seide mit Spaghetti-Trägern angehabt haben.
    Diese Einzelheiten verblüfften Zoe. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie »Polizei« all das erraten haben sollte — vor allem das Armband. Sie begann sich zu fragen, ob er auf irgendeine geheimnisvolle Weise in der Lage war, ihre Gedanken zu lesen oder die Vergangenheit aus einer Aura am Tatort zu rekonstruieren.
    Dieses sture, durch nichts zu besänftigende Wesen, das sich hinter ihr herschleppte, erzählte den Zeitungen und den Fernsehreportern, daß die Täterin sich wahrscheinlich in grelle, freizügige Kleider hüllte. Es sagte, daß sie wahrscheinlich weder an Make-up noch an Parfüm sparte. Es sagte, daß sie zwar keine Prostituierte sei, aber den Eindruck zu erwecken suche, daß man sie haben könne.
    Es gab bekannt, daß die Tatwaffe in den ersten vier Fällen ein Schweizer Armeetaschenmesser gewesen sei, daß beim fünften Mord aber möglicherweise ein anderes Messer benutzt worden sei. Es erwähnte fast beiläufig, daß die Frau vermutlich irgendwie mit der Hotelbranche in Manhattan in Verbindung stehe.
    Es war erstaunlich! Woher bekam »Polizei« seine Informationen? Zum erstenmal verspürte Zoe einen Anflug von Furcht. Dieser ausgetrocknete, von eiskalter Entschlossenheit erfüllte alte Mann mit seinen eingefallenen Wangen und dem irrsinnigen Blick würde ihr keine Ruhe lassen, bis sie tat, was er wollte.
    Sterben.
    Sie durchdachte ihr Problem sorgfältig. Und dann ließ ihre Panik nach, als sie Möglichkeiten entdeckte, ihrem Untergang zu entgehen.
    Dienstag nacht, vom 24. auf den 25. Juni, wurde Zoe Kohler um zwei Uhr fünfzehn von einem Telefonanruf geweckt.
    Zuerst dachte sie, der Anrufer, ein Mann, sei Ernie, denn er schluchzte, und sie

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