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Die dritte Todsuende

Die dritte Todsuende

Titel: Die dritte Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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um elf.«
    Er gab einen Laut des Mitgefühls von sich. Keiner von ihnen bewegte sich jetzt, jeder fürchtete, das zerbrechliche Gleichgewicht des Augenblicks zu zerstören. Sie wußten, daß sie die Enthüllung, die Offenbarung riskierten. Sich dem anderen zu öffnen — welch süßer Schmerz. Vorsichtig näherten sie sich innigster Vertraulichkeit, im vollen Bewußtsein der Gefahren.
    »Einmal bin ich mit einem Jungen ausgegangen«, sagte sie. »Einem netten Jungen. Sein Wagen hatte eine Panne, so daß ich nicht rechtzeitig zurück sein konnte. Meine Mutter hat sofort die Polizei gerufen. Kannst du dir das vorstellen? Es war schrecklich.«
    »Es ist zu deinem eigenen Besten, meine Liebe«, imitierte Ernest eine Frauenstimme.
    »Ja, genau das hat sie gesagt. Aber danach war ich bei den Jungen nicht mehr besonders gefragt.«
    Danach schwiegen sie und genossen ihre Nähe. Sie hatten das Gefühl, daß sie sich Zeit lassen konnten, selbst wenn es ein ganzes Leben lang dauerte.
    »Ich war nie beliebt«, sagte er mit einer Mischung aus Trauer und Schmerz in der Stimme. »Ich war klein, kein Athlet oder so was. Und ich hatte nie genug Geld, um ein Mädchen ins Kino einzuladen. Ich hatte nie echte Freundinnen, mit denen ich fest ging.«
    Für beide war es etwas ganz Neues — dieses zärtliche Bekennen. Die fremde, barbarische Welt hatte sie eingeschüchtert. Jetzt erhielten ihre Schneckenhäuser Risse, und nackt und klein spähten sie heraus, halb sehnsüchtig, halb verängstigt. Sie wußten, daß selbst dieses erste Betasten seinen Preis kostete. Eine Zukunft, die sie nicht vorhersehen konnten, erwuchs aus ihrer Intimität.
    »Ich bin auch nie fest mit jemand gegangen«, fuhr sie fort, entschlossen, nicht aufzuhören. »Nur wenige Jungen haben mich ein zweites Mal gebeten, mit ihnen auszugehen.«
    »Wieviel verlorene Zeit!« sagte er mit einem Seufzen. »Für uns beide. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sich irgendein Mädchen für mich interessieren würde. Ich hatte Angst, sie zu fragen. Und du…«
    »Ich hatte auch Angst, mit einem Jungen allein zu sein. Wieder meine Mutter. Tu dies nicht. Tu das nicht. Laß nicht zu, daß ein Junge — du weißt schon… dir zu nahe kommt.«
    »Wir sind beraubt worden«, sagte er. »Alle beide, all die Jahre über.«
    »Ja, beraubt.«
    Wieder Schweigen. Der Wind frischte auf, wurde kühler. Sie blickte auf sein Gesicht hinunter, nahm es zwischen ihre Hände. Ihre Augen suchten einander.
    »Aber du hast geheiratet«, sagte er.
    »Ja. Das stimmt.«
    Sie beugte sich hinunter, er richtete sich auf. Ihre weichen Lippen trafen sich, preßten sich gegeneinander, verweilten. Sie küßten sich. Sie küßten sich unaufhörlich.
    »Oh«, atmete er, »oh, oh.«
    Sie zog die Lippen in seinem Gesicht mit den Fingerspitzen nach. Sie fühlte seine Augenbrauen, die Wangen, die Nase, die Lippen. Er schloß die Augen und sanft, ganz sanft berührte sie seine Lider, zog kleine Kreise. Dann beugte sie sich wieder vor und preßte ihre Lippen auf seine Lippen.
    Sie richtete sich auf.
    Plötzlich zitterte sie leicht und bekam eine Gänsehaut.
    Er öffnete die Augen, blickte sie besorgt an.
    »Kalt?«
    »Ein bißchen«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir langsam daran denken, uns auf den Weg zu machen, Ernie.«
    »Sicher«, sagte er und erhob sich mit unsicheren Beinen.
    Er half ihr auf, zupfte kleine Zweige von ihrem Rock und vom Rücken ihres Tweedjacketts.
    »Was machen wir mit dem Luftballon?« fragte er.
    »Lassen wir ihn frei«, sagte sie. »Lassen wir ihn davonfliegen.«
    »Gut«, sagte er und löste das Band vom Griff ihrer Handtasche.
    Er gab ihr das Band, und sie ließ es los. Langsam stieg der rote Ballon auf. Dann wurde er von dem anschwellenden Wind gepackt und trieb davon. Sie sahen zu, wie er aufstieg, hierhin und dorthin zog, höher und höher segelte, kleiner und kleiner wurde und sich schließlich ganz im Himmel verlor.
    Langsam gingen sie auf den zementierten Bürgersteig zu.
    »Etwas wollte ich dich schon immer fragen, Zoe«, sagte er, ohne sie anzuschauen. »Ist Kohler der Name deines Mannes oder dein Mädchenname?«
    »Der Name meines Mannes. Er stand auf meinen ganzen Papieren, dem Führerschein und so weiter. Es schien mir zu mühsam, alles wieder ändern zu lassen. Mein Mädchenname ist Spencer.«
    »Zoe Spencer«, sagte er. »Das klingt hübsch. Zoe ist ein sehr ungewöhnlicher Name.«
    »Ich glaube, es ist griechisch. Es bedeutet ›Leben‹. Es war die Idee meiner

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