Die dritte Weissagung
Schwestern, endlich auch der Pflichten erinnern, die ein jeder zu verrichten hat!«
»Seid nicht ungerecht, Vater. Ich kenne meine Pflichten. Ich benutze ihn«, sie nickte zu Rasputin, als spräche sie über einen struppigen Hund, »um alles in unserem Sinne zu steuern. Ihr selbst hattet zuge-stimmt und mir dieses . Spielzeug bewilligt.«
»Solange es ein Spielzeug war, war es in Ordnung. Aber inzwischen ist es zu einer Manie geworden. Ich finde täglich mehr Hinweise, daß er dir entgleitet. Dieser Mann«, der Vampir faßte Rasputin scharf ins Auge, »ist anders als die Menschen, mit denen wir sonst zu tun haben. Ich traue ihm nicht. Dieser gottverdammte Kerl mit dem Blick, der selbst mir das Blut in den Adern kälter werden läßt, gehört an den Galgen!«
»Er ist keine Gefahr für uns. Was in seinen Augen lodert, ist erstaunlich. Aber unser Wille deckt den seinen seit langem zu. Er tut, was wir wollen .«
»Vielleicht tut er, was du willst. Aber ich fürchte, das deckt sich nicht immer mit den übergeordneten Zielen.«
»Was sind die übergeordneten Ziele?« Es störte Irina nicht, daß sie sich ihrem Oberhaupt entblößt, mit gespreizten Beinen präsentierte. Sie hatte ihn »Vater« genannt, aber ihr wahrer Vater war er natürlich nicht. Er war der Erste gewesen, den der Kelchhüter seinerzeit getauft hatte, mit dem Blut des Hüters. Alle nachfolgenden Täuflinge waren dann mit Iljas Blut initiiert worden.
Dies war, wie Irina inzwischen wußte, die übliche Vorgehensweise des Reisenden gewesen.
»Die Macht zu bewahren«, antwortete Ilja.
Obwohl die Situation nicht für eine Diskussion dieser Art geeignet erschien, war Irina streitlustig und selbstbewußt genug, sie dennoch dafür zu nutzen.
Iljas Blick ließ kurz von ihr ab und taxierte Rasputin. In den Augen des Vampirs schien es zu wetterleuchten. »Ich mag ihn nicht. Ich mag Menschen allgemein nicht, aber diesen hier .«
»Er ist unsere Galionsfigur«, widersprach Irina mit der ganzen Überzeugungskraft, zu der sie fähig war. »Als ich ihn in den Palast einführte, hat niemand Einwände dagegen geltend gemacht. Und ein jeder konnte sehen, wie anfällig Nikolaus und seine Familie für ihn waren. Als hätten sie immer auf eine charismatische Person wie Rasputin gewartet .«
»Das alles mag wahr sein«, erwiderte Ilja, weiterhin unversöhnlich, was dieses Thema anging. »Aber wir hatten die Romanows schon viele Generationen vorher bestens im Griff - auch ohne einen Scharlatan und Strohmann wie Rasputin. Unsere Kräfte und Möglichkeiten machen ihn überflüssig. Er könnte heute von der Bildfläche verschwinden, und die Politik ginge weiter wie bisher. Das Volk würde immer noch uns gehorchen, wie es dies immer tat!«
»Was ist unsere Politik? Kriege anzetteln? Zündschnüre im eigenen Land und fernen Ländern legen? Ich muß gestehen, ich habe es nie verstanden .«
»Nicht jeder muß alles verstehen. Aber es gibt übergeordnete Interessen zu wahren. Die Interessen unserer Art als Ganzes.«
»Warum sind die Sippen untereinander dann oft zerstritten?«
»Das scheint nur so.«
»Wirklich .? Ich finde, seit der Hüter -«
Ilja machte einen Schritt auf das Bett zu, in dem Irina und Rasputin es miteinander getrieben hatten - und vermutlich auch weiter treiben würden, sobald er ihnen den Rücken gekehrt hatte.
»Genug! Denk über meine Worte nach. Ich bin dafür, daß er verschwindet. Ich bin dafür, daß wir nur noch eine Marionette in unserem Dunstkreis dulden - den Zaren selbst. Ich werde eine Versammlung einberufen und dies auch mit den anderen bereden. Ich werde mir jedes Argument anhören, auch die Gründe, die du anführen kannst. Aber letztlich werde ich nur auf meinen Instinkt vertrauen und allein entscheiden, ob dieser Kretin weiterleben darf oder nicht!«
Das Oberhaupt der Sippe, in deren langem Schatten die Zarenfamilie und der übrige Adel von Pedrograd lebten, war eine stattliche Gestalt. Er maß fast zwei Meter und war breit wie ein Schrank. Darin unterschied er sich von Rasputin, der auch hochgewachsen, aber insgesamt schmächtig wirkte. Doch auch Ilja trug einen Bart, der bis zum Brustbein reichte, und hätte man seine Augen neben Rasputins Augen auf einen Tisch gelegt, dann hätte man schaudernd anerkennen müssen, wie ähnlich sich diese beiden sonst so gegensätzlichen Geschöpfe waren.
Vielleicht, dachte Irina, spürt dies auch unser Sippenoberhaupt und verabscheut Rasputin deshalb - vielleicht erträgt er es nicht, daß ihm
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