Die Drohung
Spezialarzt, der macht dös mit Elektroschocks weg. Wollens do hin?«
»Haben Sie die Schüsse nicht gehört?«
»Na.« Der Taxifahrer lächelte breit. »Schiaßen, dös kenn i. I woar Feldwebel bei die Panzergrenadiere. Hier hat koana g'schossen.«
»Zweimal.« Lepkin ging zur Hauswand. Er suchte eine Weile gebückt, hob etwas auf und ging zu dem Wagen zurück. Auf seiner Handfläche lag ein Projektil mit plattgedrückter Spitze. »Und was ist das?«
»Jo mei!« Der Taxifahrer nahm das Geschoß, rieb mit dem Daumen über die Spitze und gab es Lepkin zurück. »Pistole oder Revolver.« Unwillkürlich zog er den Kopf ein und sah sich um. Die Straße war leer bis auf ein paar parkende Autos. War aus ihnen geschossen worden? Lag der Schütze jetzt flach auf einem der Polstersitze? »Einsteigen!« Der Fahrer riß die Tür auf. »Kommens schnell. I fahr Sie zum Präsidium …«
»Danke.« Lepkin winkte ab, nahm das Projektil an sich und steckte es ein. Dann gab er dem Taxichauffeur einen Zehnmarkschein. »Für den Verdienstausfall. Ich gehe ins Hotel zurück.«
Mit einem Schnellstart raste das Taxi davon. Lepkin, jetzt ungeschützt, rannte mit langen Schritten zum Holiday Inn zurück. Als er den breiten Eingang erreicht hatte und durch die Glastür ging, atmete er erleichtert auf.
Nie mehr ohne Nagan, dachte er. Auch wenn das Biest schwer ist und klobig wie ein Baumstumpf … man kann sich auf sie verlassen. Sie schießt immer, sie versagt nie … man kann sie in Schlamm werfen, im Sand vergraben, einschneien lassen … wenn man sie in die Hand nimmt und zieht am Abzug, verrät sie einen nicht. Sie ist immer da.
Er hatte gerade sein Zimmer betreten, als das Telefon anschlug. Lepkin verfluchte sein Zurückkommen – sicherlich war das Abetjew, der wieder düstere Arien sang. Um diese Zeit hatte er dazu die beste Laune und Stimme.
Er nahm den Hörer, seufzte tief, damit Abetjew hörte, wie schwer das Leben in Deutschland war, und meldete sich.
»Lepkin.«
Eine fremde Stimme antwortete ihm. Auf Russisch, aber Lepkin hörte sofort, daß es kein Russe war. Es fehlte das angeborene Kehlige. So sprach ein Mitteleuropäer, der seinen Russischkurs mit Erfolg beendet hatte.
»Ich wollte nur einem Mißverständnis vorbeugen«, sagte die Stimme. »Ich habe absichtlich vorbeigeschossen! Es wäre einfach gewesen, Sie voll zu treffen – ich wollte es nicht. Warnen ist besser als vernichten. Durch die Nichtbeachtung dieser einfachen Formel sind schon Staaten zerbrochen. Begehen Sie nicht den gleichen Fehler, Stepan Mironowitsch. Lassen Sie sich nicht vernichten. Sie haben gesehen, wie einfach das ist. Fliegen Sie nach Moskau zurück.«
»Wer sind Sie, Towarischtsch?« fragte Lepkin. Er ahnte es, aber wie sein amerikanischer Kollege Holden wollte er das Gespräch möglichst lange ausdehnen. Nur hatte er kein Tonband zur Hand. Die technische Zentrale war bei Smelnowski. Im Holiday Inn wohnte der Privatmann Lepkin.
»In gewisser Weise ähneln Sie Ric Holden«, sagte die Stimme. »Sie wissen doch, wer ich bin!«
Es war nicht Lepkins Art, sich von nutzlosen Gefühlen beeinflussen zu lassen, aber in diesem Augenblick durchzog ihn eine armselige Angst. Nicht um sich selbst – sein Leben war in Fatalismus bester asiatischer Prägung eingebettet –, sondern bei dem Gedanken an Holden.
»Haben Sie meinen Freund Ric erschossen?« fragte Lepkin leise.
»Nein. Auf ihn schieße ich nicht. Mit ihm habe ich anders verhandelt. Und er versteht mich.«
»Das heißt bei richtiger Auslegung der Dialektik, daß Sie nur auf Russen schießen? Beim nächsten Mal treffen Sie mich?«
»Richtig. Ihrem Freund Holden habe ich von Japan berichtet, von Hiroshima, von Suzuki. Lassen Sie sich das mal erzählen. Das war 1945. Was vorher war, weiß er nicht … es ist nicht seine Welt. Aber Ihre, Lepkin! Von 1943 bis 1944 war ich in sowjetischer Gefangenschaft. In Sibirien. Im Lager 111/1285, nördlich von Magadan. Dante hat in seinem grandiosen Epos die Hölle beschrieben, wie sie eine erregte menschliche Phantasie sich vorstellte. ›Wer hier eintritt, laß' alle Hoffnung fahren‹ soll über dem Eingang der Hölle gestanden haben. Ich bin durch dieses Tor gegangen … es stand in der eisklirrenden Taiga und hieß Nowo Tschemskij. Nach sechs Monaten bin ich geflüchtet, quer durch die Wälder, über vereiste Ströme, durch frosterstarrte Sümpfe, über schneeumheulte Bergpfade. Sieben Monate lang war ich auf der Flucht ins Leben, bis ich die
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