Die Duftnäherin
gezielt danach fragen sollte, warum er sie beobachtete. Doch als sie wieder aufblickte, war der Fremde bereits verschwunden. Anna schauderte. Wer war dieser Novize, und was wollte er von ihr? Mit klopfendem Herzen machte sie sich wieder auf den Rückweg. Ihre Unbeschwertheit hatte sich ebenso wie das sichere Gefühl, endlich ein Zuhause gefunden zu haben, in Luft aufgelöst. Bedrückt bahnte sie sich mit großen Schritten ihren Weg durch die Menge. Sie wollte sich nicht mehr fürchten. Und wenn sie das nächste Mal diesen Novizen sah, würde sie ihn, ob Kirchenmann oder nicht, am Kragen packen und aus ihm herausschütteln, weshalb er ihr nachstellte. Schon allein die Vorstellung machte ihr Mut, und trotzig nahm sie die Melodie wieder auf, die sie vor der beklemmenden Begegnung vor sich hin gesummt hatte.
Kurz bevor sie das Haus ihres Großvaters erreichte, lief ihr Gawin über den Weg.
»Guten Tag, Bruderherz!«, rief sie ihm zu.
Gawin verzog das Gesicht. Ihm fiel es immer schwerer damit umzugehen, dass Anna ihn auf diese Weise ansprach. Seit sie aus dem gemeinsamen Zimmer bei Margrite gezogen war, hatte er die Hoffnung gehegt, dass seine Gefühle für sie mit der Zeit schwächer werden würden. Doch so war es nicht. Vielmehr war sie sein erster Gedanke, sobald er erwachte, und sein letzter, wenn am Abend der Schlaf über ihn kam. Oft tastete er dann nach seinem steif gewordenen Glied und verschaffte sich Erleichterung, während er sich dabei vorstellte, dass nicht er, sondern Anna ihn berührte. Die Leidenschaft, mit der er sich nach ihr sehnte, schien von Tag zu Tag stärker zu werden. Inzwischen ärgerte er sich über alle Maßen, die Behauptung aufrechterhalten zu haben, dass sie Geschwister waren. Doch was sollte er jetzt noch tun, nachdem sie es so gewollt und er darin eingewilligt hatte? Ihr die Wahrheit zu sagen kam für ihn nicht in Betracht.
Doch da war auch noch etwas anderes, das zusehends an ihm nagte. Hanno sprach ebenso viel von Anna, wie Gawin an sie dachte, und der Klang, den Hannos Stimme hierbei annahm, ließ ihm jedes Mal die Zornesröte ins Gesicht steigen. Hanno hatte es bemerkt und sich beeilt ihm zu versichern, dass seine Absichten durchaus ehrenwert seien und er sich schon jetzt auf den Tag freue, da er Anna mit seiner Hände Lohn ein eigenes Heim bieten könne, wenngleich es sicher kleiner und weitaus bescheidener sein würde als das ihres Großvaters. Gawin hatte ihn mit den Worten zurechtgewiesen, er solle seine Leidenschaft lieber dem Holztisch zukommen lassen, an dem er gerade herumfeilte. Seine schroffe Art ließ Hanno merklich zurückschrecken. Gawin wollte ihm seine heftige Reaktion erklären, doch die richtigen Worte wollten ihm einfach nicht über die Lippen kommen. Also hatte er es dabei belassen und sich rasch wieder an die Arbeit gemacht.
Nun hatte ihn Anna fast erreicht und umarmte ihn überschwenglich zur Begrüßung. »Na, musst du gar nicht arbeiten?«
Sie duftete nahezu berauschend, und als sich ihre Brüste während der Umarmung kurz gegen seinen Oberkörper drückten, begann sich sein Glied zu versteifen. Er schluckte heftig, antwortete dann aber mit unbewegter Stimme.
»Ich wurde ins Rathaus gerufen. Dort soll irgendetwas zu Bruch gegangen sein.«
»Was bist du denn so kurz angebunden?«
»Ich bin nicht kurz angebunden! Ich muss nur arbeiten und habe keine Zeit.« Mit diesen Worten stapfte er davon.
Anna blieb verwirrt und auch ein wenig zornig zurück. Gawin wurde immer übellauniger und grober zu ihr, ganz gleich, wie sehr sie sich auch um ihn bemühte. Gewiss nahm er ihr übel, dass sie in das Haus ihres Großvaters gezogen war und ihn bei Margrite zurückgelassen hatte. Obwohl ihm Siegbert mehr als einmal angeboten hatte, dass auch er ein großes Zimmer mit einem eigenen Bett bekäme. Doch er schien sich Margrite weit mehr verpflichtet zu fühlen, als sie es tat, wenngleich auch sie die Hauswirtin in mancher Stunde schmerzlich vermisste. Aus diesem Grunde besuchte sie die Freundin auch, sooft es ihr ihre Zeit neben dem Nähen und Verkaufen ihrer Kleider erlaubte. Und dann war da auch noch Esther, die ihr so sehr ans Herz gewachsen war, dass sie sich gern um die Jüngere kümmerte und sich wie ein Kind darüber freute, dass diese nach und nach ihre Scheu verlor und mittlerweile sogar ab und zu wieder zu lächeln vermochte. Sie fühlte sich verantwortlich für den Gast ihres Großvaters und wollte Esther dabei helfen, eines Tages wieder befreit und glücklich
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