Die Duftnäherin
Bruder Hermannus zeigte sich mit ihr zufrieden, und auch an Gawins Arbeit hatte er nichts auszusetzen. Es schien, als könne dieser einfach jede handwerkliche Aufgabe, die ihm aufgetragen wurde, zur vollen Zufriedenheit der Mönche erledigen. Nach der alltäglichen Pflicht, Kutten herzustellen und auszubessern, widmete sich Anna stets eine volle Stunde lang der Fertigstellung ihrer wie auch Gawins neuer Kleidung. Den Stoff dafür kaufte Gawin von den Mönchen. Ohne diese zu übervorteilen, verstand er es geschickt, einen guten Preis auszuhandeln, indem er gegenüber Bruder Hermannus mit dem Gewinn argumentierte, der dem Kloster durch Annas und seinen eigenen Arbeitseinsatz entstand. Schließlich, so führte Gawin an, nähe Anna doppelt so schnell wie verlangt, verzehre jedoch nur die Menge, die ihr für einen Arbeitstag zustand. Es sei also nur recht und sicher auch Gottes Wille, der Anna ja mit der Gabe des geschickten und raschen Arbeitens gesegnet habe, dass sie deshalb sowohl zu ihrem eigenen wie auch zum Wohl der gläubigen Brüder unterschiedlichste Aufgaben verrichten könne. Die Worte, die Gawin wählte, hatte er zuvor haarklein mit Anna abgesprochen, und als er mit dem Stoff, den sie benötigte, in die Kammer zurückkehrte, gierte sie bereits danach zu hören, was Bruder Hermannus gesagt hatte. Als Gawin ihr berichtete, dass ihr Plan aufgegangen sei und er noch zwei Pfennige weniger für einen Tuchballen hatte bezahlen müssen, als sie sich erhofft hatten, fiel Anna ihm stürmisch um den Hals. In diesem Moment betrat der junge Novize, von dem sie inzwischen wussten, dass er Thomas hieß, die kleine Zelle.
»Verzeiht!«, brachte er entschuldigend hervor.
Anna war verlegen, Gawin hingegen blieb völlig ungerührt.
»Sie ist meine Schwester«, entgegnete er selbstverständlich und wandte sich dann an Anna: »Du brauchst keineswegs verlegen zu sein. Es ist nur natürlich, dass Bruder und Schwester einander gelegentlich in Liebe umarmen.«
»Der Prior möchte Euch sprechen«, sagte der Novize, ohne auf Gawins Bemerkung einzugehen.
»Gut. Sag dem Prior, wir kommen sogleich.«
»Er möchte nur mit Euch sprechen. Sie«, er wies mit dem Finger auf Anna, »bleibt hier.«
Anna seufzte kaum hörbar, aber Gawin bemerkte es trotzdem. In den sechs Tagen, die sie sich inzwischen hier aufhielten, hatte sie noch kein einziges Mal die Kammer verlassen dürfen, während Gawin bereits das gesamte Kloster nebst Gärten inspiziert hatte. Anna verlor kein Wort darüber, aber der Umstand, Tag für Tag in ihrer Kammer eingesperrt zu sein, machte sie traurig und ließ ihre Unruhe immer größer werden.
»Ich komme«, lenkte Gawin ein, warf Anna einen entschuldigenden Blick zu und verließ das Zimmer.
Als er zusammen mit Bruder Thomas die Zelle des Priors erreichte, hatte er den Entschluss gefasst, all seinen Mut zusammenzunehmen und sich dafür einzusetzen, dass Anna künftig jeden Tag mindestens fünfzehn Minuten nach draußen gehen durfte. Zögerlich klopfte der Novize an und bot Gawin den Vortritt, als die Stimme des Priors drinnen erschallte.
»Vater, Ihr wünschtet den neuen Handwerker zu sprechen.«
»Hab Dank, Bruder Thomas. Und du, trete ein und setz dich dort hin. Ich habe mit dir zu sprechen.«
Gawin nahm auf dem ihm zugewiesenen Stuhl Platz. Es war das erste Mal, dass er die Kammer des Priors betrat. Er hatte sie sich größer und auch üppiger ausgestattet vorgestellt. Doch die Zelle war nur um ein weniges breiter als die, die er sich mit Anna teilte.
»Bist du enttäuscht?«, fragte der Prior.
»Ehm, enttäuscht? Nein. Weshalb?«
»Ich sehe es an deinem Blick.«
Gawin wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Schließlich wäre es nicht sehr schmeichelhaft, dem Prior gegenüber eingestehen zu müssen, dass er ihn für eitler und machtbewusster gehalten hatte.
»Du bist nicht dumm, das sehe ich. Und deine Arbeit verrichtest du ebenfalls geschickt. Sehr geschickt sogar. Bruder Hermannus berichtete mir davon. Und ich selbst habe über das gestaunt, was du geleistet hast. Woher kommst du, Junge?«
Gawin freute sich nur kurz über das Lob und besann sich dann schnell auf die Geschichte, die sich Anna und er zurechtgelegt hatten.
»Ich bin mit meiner Schwester hier. Unsere Eltern sind tot.«
Der Prior lächelte spöttisch.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet. Woher kommt ihr?« Er trat direkt vor Gawin und sah ihm in die Augen.
»Von überall und nirgends. Wir waren an keinem Ort sehr
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