Die Dunkelheit in den Bergen
Entdeckten sie ein solches, traten sie in voller Montur mitten in den Fahrweg und hielten die Arme in die Höhe. Der Kutscher durfte erst weiterfahren, wenn er seine Buße auf der Stelle bezahlt hatte.
63 Baron von Mont freute sich, die Nachricht über ein mögliches neues Amt, ein eidgenössisches sogar, beim Abendessen seiner Gemahlin mitzuteilen.
Wie schön!, sagte Josepha. Dann wirst du sicher einmal im Jahr nach Bern reisen müssen. Vielleicht darf ich dich einmal begleiten?
Du willst fünf Tage in der Kutsche sitzen? Und nochmals so lange auf dem Heimweg? Noch ist alles nur ein Plan. Das kann noch lange dauern, sagte der Baron. Und vielleicht bist du bis dahin in unserem Haus auch nicht mehr abkömmlich.
Wieso sollte ich hier nicht abkömmlich sein?
Der Baron blickte sie prüfend an. Na, weshalb wohl ist eine junge Ehefrau in ihrem Heim nicht abkömmlich?
Eine leichte Röte überzog Josephas Gesicht. Dann werde ich, sagte sie, natürlich zu Hause sein.
Das Leben verlief wieder in geordneten Bahnen. Der Baron freute sich. Wurde er nachts wach, spendete das neue Nachtlicht von Krämer Moritzi Helligkeit im Schlafzimmer. Dann ging der Baron in sein Arbeitszimmer, zündete dort ebenfalls ein Licht an, sah seine Papiere durch, las die neueste Polizeizeitschrift und schrieb hin und wieder ein kleines Memorandum.
Manchmal, wenn alles geordnet schien und ihm trotz der Dunkelheit vor dem Fenster das Leben recht sorglos vorkam, fast schon ein wenig langweilig, holte er hinter dem Schrank eine Zeichenmappe hervor. Bereits beim Lösen des Knotens erfasste ihn eine große Unruhe. Die Mappe enthielt eine einzige Zeichnung, bei deren Anblick er jedesmal von neuem erschrak. Niemand außer ihm durfte diese Zeichnung sehen, und niemand durfte wissen, dass sie sich in seinem Besitz befand. Er lauschte in die Stille des Hauses, und erst als er sicher war, dass ihn niemand überraschen würde, schlug er die Mappe auf. Der Künstler trug die gleichen Vornamen wie er selbst. Johann Heinrich. Er wusste es, obwohl die Zeichnung nicht signiert war. Niemand würde unter eine solche Zeichnung seine Unterschrift setzen. Sie war über einen Basler Kunsthändler zu ihm gekommen, als diskrete Beigabe zu zwei kolorierten Radierungen des Johann Jakob Biedermann und einem hübschen Aquarell eines Alpaufzugs von Gabriel Lory fils. Die Radierungen hingen gerahmt in der Wohnstube des Ehepaars von Mont, der Alpaufzug im Eingangssaal. Diese Zeichnung hier war nicht dafür gedacht, an eine Wand gehängt zu werden. Der Händler, der im letzten Jahr nach Chur gereist war, zeigte sie ihm unter vier Augen und bezeichnete sie als ein heikles Problem. Er hatte nicht vor, die Zeichnung zu verkaufen, er wollte sie in vertrauensvolle Hände geben, einer Person von Rang, die selbst entscheiden sollte, wie damit zu verfahren war. Allerdings, fügte der Kunsthändler bedauernd hinzu, hätte er einige Kosten gehabt –
Niemand außer dem Baron bekam die Zeichnung jemals zu Gesicht. Sie stammte von einem Zürcher Pfarrer, der wegen politischer Angelegenheiten hatte fliehen müssen. Inzwischen war er in England als Maler zu höchstem Ansehen gekommen und Direktor der Royal Academy of Arts geworden. Dass jemand, der früher Pfarrer war, etwas Derartiges zeichnen konnte, war dem Baron unbegreiflich.
Der Baron wäre nicht fähig, jemandem die Zeichnung mit Worten zu beschreiben.
Was darauf zu sehen war? Nun, ein nackter Mann lag mit verbundenen Augen auf einem Bett. An Händen und Füßen gefesselt, lag er wehrlos auf dem Rücken. Alles verlief in der Horizontalen, bis auf das eine Vertikale. Eine Frau küsste ihn auf den Mund, eine zweite Frau tat etwas, wofür es keine annehmbare Bezeichnung gab.
Mit deutlichem Herzklopfen klappte der Baron die Mappe wieder zu, band den Knoten fest und schob sie hinter den Schrank zurück. Dann ging er ins Schlafzimmer und legte sich zu seiner Gemahlin ins Bett, wobei er durchaus in Kauf nahm, dass sie davon erwachte.
Am Ende der Woche wurde die geordnete Welt des Baron von Mont wieder in Gefahr gebracht. Erneut kam ein Bote von Landammann Locher ins Verhörrichteramt, dieses Mal mit einer Nachricht: Eine Bäuerin aus Versam hatte ihren Mann angezeigt. Dieser solle sich, zusammen mit seinem Bruder, in der Mordnacht ebenfalls in der Weihermühle aufgehalten haben.
64 Er hat uns angelogen!
Der Verhörrichter stand vor Rimmel, der in der weißen Häftlingskleidung auf dem Steinboden seiner Zelle kniete. Baron von Mont
Weitere Kostenlose Bücher