Die dunkle Armee
Illusion, eine optische Täuschung oder so etwas ist.«
Mirron starrte Jhered an. Während ihrer langjährigen Freundschaft hatte sie ihn als realistischen Mann mit klarem Verstand kennen gelernt, der hinter seiner rauen Schale viel nachsichtiger und freundlicher war, als man vermuten konnte. Zum ersten Mal aber bemerkte sie auch etwas wie Unsicherheit.
»Das können wir nicht beurteilen«, sagte Mirron. »Wenn es wahr ist, dann haben wir jedenfalls noch nie darüber nachgedacht und erst recht nicht in diese Richtung geforscht.«
»Wo ist Yuran jetzt?«, fragte Arducius.
»In einer Zelle unter dem Palast«, sagte Jhered. »Hört mal, es fällt mir wirklich schwer, mir so etwas vorzustellen.«
»Das überrascht mich nicht«, meinte Ossacer.
»Falls es aber eine Gefahr gibt, dann müssen wir ihr Ausmaß genau einschätzen. Ich werde jetzt die Advokatin aufsuchen und über das informieren, was wir bisher wissen. Sie wird möglichst schnell handeln wollen, deshalb müssen wir herausfinden, ob es wahr ist, und welche Möglichkeiten diese Fähigkeit bietet, falls sie wirklich existiert. Wir können es uns nicht leisten, unsere Grenztruppen zu alarmieren, wenn wir nicht genau wissen, dass Khuran erneut die Konkordanz angreifen will. Ihr wisst, wie schwierig die Beziehungen zu manchen Provinzen sind.«
»Uns ist klar, wie heikel unsere Lage ist«, sagte Arducius.
Jhered nickte. »Darauf wollte ich noch zu sprechen kommen. Wenn dies durchsickert, wird der Aufstieg mehr Feinde haben denn je, und ihr werdet eine Menge Fragen beantworten müssen. Ob es euch gefällt oder nicht, man wird euch die Schuld daran geben. Seid vorsichtig, ihr alle.«
Er stand auf und lächelte wenig überzeugend.
»Sprecht mit Yuran. Verschafft euch selbst einen Eindruck. Die Autorität soll sich damit befassen. Das Problem ist, dass ich noch nicht einmal genau weiß, was das überhaupt zu bedeuten hat. Ist es eine Theorie, die man praktisch nicht anwenden kann? Yuran war sicher, dass es ein Potenzial für eine echte Waffe gibt. Ich muss wissen, ob er recht hat, ob wir uns auf einen Krieg vorbereiten müssen, den wir nicht wollen und den wir vielleicht nicht einmal gewinnen können. Ich muss wissen, womit es die Legionen vielleicht zu tun bekommen.«
Nachdem Jhered gegangen war, herrschte ein drückendes Schweigen. Mirron fühlte sich leer und sehr bekümmert. Dies konnte alles zum Einsturz bringen, was sie aufgebaut hatten.
»Dann lebt er also noch«, sagte Ossacer.
»Wir müssen stark sein«, ermahnte Arducius die anderen. »Wir dürfen nicht von ihm besessen sein und uns nicht durch ihn verändern lassen.«
»Wie sollen wir das schaffen?«, fragte Mirron. »Er hat sogar den Schatzkanzler verunsichert.«
»Ich meine, die Arbeit der Akademie muss weitergehen. Wir müssen an die Leitsätze des Aufstiegs glauben und die Ausbildung unserer neuen Aufgestiegenen und die Unterrichtung der Öffentlichkeit fortsetzen wie bisher. Allerdings lastet nun ein Makel auf uns, mit dem wir uns beschäftigen müssen.«
»Das klingt ja ganz nett, Ardu, und ich bin gespannt, wie du das der Advokatin und der Autorität erklärst. Aber was wollen wir nun tun?«, fragte Mirron.
»Ganz einfach«, sagte Ossacer. »Ich halte es nicht für sinnvoll herauszufinden, ob Gorian tun kann, was behauptet wird. Wir müssen ihn aufspüren, wo auch immer er sich versteckt, und ihn töten.«
»Das ist doch nichts weiter als Opportunismus, und Ihr werdet es bereuen.«
Herine Del Aglios, die Advokatin der Estoreanischen Konkordanz, stand von ihrer Liege auf und trat an die offene Balkontür. Estorr erstrahlte im Sonnenlicht, obwohl es ein kühler Tag war. Frische Luft, die nach Regen und dem Beginn der neuen Jahreszeit roch, wehte herein.
In Herines Herz aber hielt sich das Eis des Dusas.
»Wir bedauern die Notwendigkeit, nicht aber die Entscheidung selbst.«
Herine wandte sich wieder um und starrte Botschafter Tharin aus Dornos hart an. Er war in den Jahren, seit die Tsardonier die Konkordanz fast niedergerungen hatten, sehr gealtert. Seine Augenbrauen waren inzwischen völlig weiß, und sein Gesicht war erschreckend eingesunken. Er wirkte jetzt wie ein alternder Bluthund. Seine Hände waren mit Leberflecken bedeckt, und sein Gang war nicht mehr sicher. Seine Toga mit der fliederfarbenen Schärpe von Dornos bedeckte einen Körper, der rasch verfiel.
Dennoch war er stolz und herrisch in seinem Gebaren. Seine Haltung gegenüber der Konkordanz hatte sich im Laufe
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