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Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
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sich um die Erinnerungen einer von mir gänzlich separierten Person. Manchmal waren sie auch wie Stummfilme, die häufig dann plötzlich abbrachen, wenn Lenz sie für besonders wichtig hielt und nach mehr Information verlangte. Sobald er jedoch stärker in mich drang, fiel ich zurück in ein schwarzes Loch und konnte ihm nicht weiterhelfen.
    Merkwürdigerweise traten diese Gedächtnislücken nicht nur auf, wenn die Sprache auf Rieke und den Grund meiner Einweisung in die Anstalt kam, sondern oft auch dann, wenn Lenz nach meiner Mutter fragte.
    »Warum denken Sie im Zusammenhang mit Ihrer Mutter an Gewalt?«, fragte er zum Beispiel. »Hat Ihre Mutter Sie geschlagen oder sonst wie misshandelt?«
    Ich wies diesen Gedanken vehement zurück. »Nein, niemals. Sie ist überhaupt kein gewalttätiger Mensch.«
    »Dennoch denken Sie an Gewalt, wenn die Sprache auf sie kommt. Es muss einen Grund dafür geben.«
    Das leuchtete wohl ein, allein ich konnte ihm den nicht nennen. Zu diffus war die Erinnerung an sie, und immer wieder quälte mich ein unerklärlicher Traum, in dem sie auf einer nachtschwarzen Bühne die Hauptrolle spielte, intensiv, überwältigend, aber nicht sichtbar.
    So ging Lenz bald davon aus, dass ich vermutlich von einem frühkindlichen Trauma belastet wurde, dessen Wurzeln in meiner Familie und da wohl am ehesten in einer problematischen Mutter-Kind-Bindung zu suchen seien.
    Als er das anlässlich einer Analysesitzung, bei der Prof. Müller-Wagner hospitierte, postulierte, konnte dieser sich ein ironisches Schmunzeln nicht verkneifen. »Sieh an, sieh an«, meinte er süffisant, »was für ein unglaublicher Zufall. Wie schön für sie, dass diese Patientin so wunderbar in das Freud’sche Schema passt.«
    Aber Lenz schoss sogleich zurück: »Besser jedenfalls als in das Ihrige.«
    Konnte er seine Zunge nicht im Zaum halten?, dachte ich wütend. Wenn er Müller-Wagner auf diese Art verärgerte, würde er nie seine Zustimmung geben, mich nach Blankensee zu entlassen!
    Er musste wohl instinktiv meinen Ärger gespürt haben, denn als der Professor gegangen war, versuchte er mir Freuds Theorie wenigstens in groben Zügen verständlich zu machen.
    »Sie müssen das so sehen, Amanda«, erklärte er, »die Psyche ist zu ihrem größten Teil unbewusst. Dieses Unbewusste ist der Beeinflussung durch den Willen nicht zugänglich. Aber es wirkt dennoch auf unsere Gefühle und unser Verhalten ein. Es beeinflusst unsere Vorstellungenund auch das Bewusstsein. Stellen Sie sich vor, ein Kind wird geboren und ist von nichts anderem besessen als von seinen Trieben. Es möchte Wärme und Nahrung und verlangt nach unmittelbarer Erfüllung dieser Wünsche. Wenn das nicht geschieht, schreit es. Jeder findet das normal und gibt ihm, was es braucht. Aber wenn der Mensch älter wird, muss er lernen, dass nicht jedes Verlangen sofort befriedigt werden kann. Er muss sich im Triebverzicht üben, denn das zeichnet sein höheres Menschentum aus. Seine Triebe einfach auszuleben gilt in modernen Zivilisationen als minderwertig.«
    Dem konnte ich mich anschließen, denn lebhaft stand mir eine Situation vor Augen, in der mir das schon als Kind bewusst gemacht wurde. So erzählte ich ihm von den Hühnern.
     
    Ich war vielleicht fünf Jahre alt und fütterte leidenschaftlich gerne die Hühner auf dem Gut. Auch an diesem Tag gab Käthe mir das Futter und ich streute es im Gehege unter ihnen aus, wobei ich laut und begeistert »put, put, put« rief. Wie so oft gesellte sich Gretchen zu uns und putzte mit Käthe Gemüse und schälte Kartoffeln. Meine Allergie gegen das Licht war noch nicht aufgetreten. So blieb ich noch alleine bei den Hühnern, als die beiden in die Küche gingen, um Gemüse und Kartoffeln auf den Herd zu setzen.
    Kurz darauf brach unter den Hühnern ein Streit aus, und der Hahn hackte eines von ihnen sehr heftig und so oft auf den Kopf, dass es schließlich unter ihm am Boden liegend zu bluten begann. Ich bin sicher, dass ich dem Huhn helfen wollte, denn ich scheuchte den Hahn, der scharfe Krallen und einen gefährlichen Schnabel hatte, mit sehr viel Mut fort und hob es auf. Warum ich später, als Gretchen und Käthe michins Haus holen wollten, das Huhn ohne Kopf in den Händen hielt, kann ich wirklich nicht sagen. Ich weiß nur noch, dass beide schrecklich kreischten und ich in Tränen aufgelöst war, als meine Mutter aus dem Haus gestürzt kam, mir das Huhn aus der Hand riss, mich blitzartig an sich presste und ins Haus

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