Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Amanda
brachen aus seinem Kiefer mächtige Fangzähne hervor, und als meine Mutter leichenblass wurde, stürzte er sich auf sie. Aber auch sie verwandelte sich, und vor meinen entsetzten Augen sah ich bald zwei fauchende Bestien bis auf das Blut miteinander kämpfen. Aber wie verzweifelt meine Mutter sich auch zur Wehr setzte, Utz bezwang sie schließlich doch und tat ihr so lange und auf grausamste Art Gewalt an, bis sie wie tot am Boden liegen blieb. Ich zitterte in meinem Versteck wie Espenlaub, hatte die Augen geschlossen und mir beide Fäuste in den Mund gepresst, um nur ja nicht zuschreien und entdeckt zu werden. Als schließlich auch das letzte Stöhnen verstummt war, wagte ich es doch wieder, hinzusehen. Radke und Utz schleiften den leblosen Körper meiner Mutter zum Teppich, wickelten ihn darin ein und trugen ihn aus dem Raum. Seitdem war sie verschwunden, und ich befürchtete, dass sie meine Mutter vor meinen Augen getötet hatten, während ich feige zusah und nicht das Geringste unternahm, um sie zu retten.
Mein Schuldgefühl war unermesslich, und weil ich es nicht ertragen konnte, sank ich in eine tiefe Ohnmacht. Als ich daraus erwachte, lag ich hinter dem Fenstervorhang am Boden und konnte mich an nichts mehr erinnern.
Doch nachdem ich nun so einiges über das Funktionieren der Psyche von Conrad erfahren hatte, wurde mir schnell bewusst, dass ich dieses grauenhafte Erlebnis bisher komplett verdrängt hatte. Meine Einweisung in die Irrenanstalt so kurz danach hatte ihr Übriges getan, um die Erinnerung daran zu verschütten.
Nun war sie durch den Brief wieder in mein Bewusstsein aufgestiegen, und so knapp und unpersönlich die Zeilen auch waren, ich fühlte instinktiv, dass er keine Fälschung war, sondern wirklich von meiner Mutter stammte. Erschüttert über das Leid, das Utz ihr vor meinen Augen angetan hatte, brach ich in Tränen aus.
Friedrich fand mich in diesem haltlos schluchzenden Zustand.
»Der Großvater meinte, ich sollte mal nach dir sehen«, sagte er sanft. »Geht es dir gut?«
Ich schüttelte aufgebracht den Kopf, das sah man ja wohl, dass es mir nicht gut ging, oder glaubte er, ich würde vor Freude in Weinkrämpfen zusammenbrechen?
»Natürlich nicht, Amanda«, entschuldigte er sich. »Es war nur eine Floskel. Völlig unpassend angesichts deines Kummers, ich weiß.«
Er setzte sich in den Ohrensessel. Die unheimliche Stille im Zimmer wurde einzig und allein durch mein gelegentliches Schluchzen unterbrochen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, nahm den Briefbogen, stand auf und hielt ihn Friedrich hin.
»Sie, sie hat mich nicht verlassen«, stammelte ich, »und sie hat sich auch nicht in einer melancholischen Anwandlung selbst getötet … Ich weiß nun wieder, was 1918 geschehen ist … Sie wurde von Utz entführt … und wenn dieser Brief echt ist, dann … dann … lebt sie noch …«
In sich überschlagenden Sätzen erzählte ich ihm alles, woran ich mich erinnert hatte.
Friedrich hörte mir schweigend zu, dabei betrachtete er den Brief. Offenbar hegte auch er Zweifel bezüglich seiner Echtheit. Schließlich aber fragte er: »Willst du der Einladung Folge leisten?«
»Was meinst du?«, fragte ich zurück, obwohl es für mich eigentlich nur eine Antwort gab.
Friedrich hingegen verfiel ernsthaft ins Grübeln. »Es ist ihre Handschrift, zweifellos, aber es ist nicht ihre Sprache. Sie würde so nicht mit dir korrespondieren …«
»Stimmt, das ist mir auch aufgefallen, es klingt so kalt, so ohne jedes Gefühl …«
»Der Brief könnte eine Falle sein …«
»Eine Falle? Warum? Warum sollte sie mir eine Falle stellen?«
»Nicht sie – Utz. Er weiß, dass er dich nur über sie bewegen kann, die weite Reise zu ihm nach Przytulek anzutreten. Estelle ist sein Köder für dich.«
Wir besprachen die Sache auch noch mit dem Großvater, wobei Friedrich allerdings über die Entführung nur sehr feinfühlige Andeutungen machte. »Es könnte sein, dass Estelle nicht freiwillig mit Utz in die Karpaten gegangen ist«, meinte er.
Aber anders als Friedrich sah der Großvater nur das Positive an dem Brief. Estelle lebte, und er konnte sie wiedersehen, wenn er noch einmal in die Karpaten reiste.
»Ich weiß«, gab er zwar zu, »dass es keine glückliche Ehe war, aber nachdem Amadeus von Treuburg-Sassen im Krieg gefallen ist, scheint mir eine Aussöhnung zwischen Karolus Utz und Estelle durchaus denkbar. Auf jeden Fall muss ich mit eigenen Augen sehen, ob es ihr gut geht. Wenn nicht,
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