Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
Gutes zeigen. Obwohl ich mich mit dem Gedanken trage, es zu verkaufen, möchte ich die doch gerne ansehen. Es sind schließlich Zeugnisse aus der Geschichte meiner Familie. Vielleicht sind sogar Amandaund Conrad oder Lysander und Oma Lysette auf einigen drauf.«
Das fand Marc aber gleich so interessant, dass ich ihn nur schwer davon abhalten konnte, mich zu begleiten.
»Fabelhaft«, meinte er begeistert. »Vielleicht geben die uns auch Aufschluss über die ursprüngliche Fassade. Das wäre großartig und sehr hilfreich für deren Restaurierung … Äh, ich meine, falls du es dir mit dem Verkauf doch noch mal überlegen solltest und …«
Ich unterbrach ihn ohne auf seine Renovierungspläne einzugehen. »Er ist ein sehr alter Herr und lädt nicht jeden zu sich ein. Man sollte ihn nicht so überrumpeln.«
Ich hatte gewonnen. Dieses Argument zog bei dem feinfühligen Marc, und so setzte er mich nach dem ausgedehnten Frühstück auf dem Gut ab, ermahnte mich, vorsichtig zu sein und am besten gleich wieder in den Ort hinunterzufahren, und brach dann offensichtlich mit viel Unruhe endlich mit dem Motorrad auf.
Ich sah ihm nach, wie er die Auffahrt hinunterdonnerte, und die vielen lieben Gedanken, die ich ihm mit auf den Weg gab, waren voller Dankbarkeit und kamen aus tiefstem Herzen.
Mir war nun endgültig klar, dass ich mich von Amadeus trennen musste. Nach dem, was ich über ihn und Estelle in der Chronik gelesen hatte, war es mir unmöglich, ihn weiterhin zu lieben. Der Bann des Besonderen, der Einmaligkeit, war gebrochen, denn er hatte vor mir bereits eine andere geliebt – und hatte mit dieser anderen, die auch noch meine eigene Ururgroßmutter war, sogar ein Kind gezeugt.
Ich konnte darüber nicht hinwegsehen. Es war so enttäuschend. Darum würde ich nun tatsächlich gehen, fürimmer, denn nur er, der Gedanke an ihn und seine Liebe, hatte mich nach dem grausamen Verbrechen an meinen Freunden hier noch gehalten. Dabei hatte er meine Liebe gar nicht verdient, denn er hatte mich getäuscht und belogen. Ich würde das Gut tatsächlich verkaufen. Es stimmte, dass ich es stets mit Amadeus verbunden hatte, und genau das würde ich nun nicht mehr ertragen können.
Aber der Abschied fiel mir schwer. In dem Bewusstsein, dass ich vermutlich nie wieder hierherkommen würde, befiel mich ein regelrechter Zwang, noch einmal über das Gut zu gehen.
Ich begann im Kräutergarten, verharrte in stillem Gedenken vor den Gräbern von Wolfgang und Conrad und gedachte auch Lysanders, dessen Herz hier ruhte. Ich zog mein Handy heraus und begann Fotos zu machen. Erst nur von den Gedenksteinen, aber dann war der Rosenstock so traumhaft schön und die Buchsbaumrondelle, die alte Steinbank … die Freitreppe … selbst die morsche Eingangstür erschien mir jetzt mit ihrer Jugendstilornamentik fotogen und romantisch. Ich wanderte durch den Park neben der Auffahrt, fotografierte von dort das Gutshaus, das von der seitlich stehenden Sonne angestrahlt wurde und wie eine Filmkulisse wirkte. Durch das Birkenwäldchen gelangte ich zum Hünengrab und auch hier boten sich beeindruckende Motive: der Wacholder in seinem dunklen Grün im Kontrast zur eben aufblühenden Glockenheide und mittendrin die Granitblöcke des steinzeitlichen Grabes.
Ich wusste, dass Lysette hier ein kleines Mädchen getötet hatte, im naiven Blutrausch ihrer ersten vampirischen Mahlzeit … und dass sie später hier den Heimleiter grausam gerichtet hatte. Der Ort hätte mich mit Entsetzen erfüllenmüssen … aber merkwürdigerweise strahlte er nur Ruhe und Beständigkeit aus … so als würde vor seiner uralten Geschichte jedes dieser Ereignisse zur Bedeutungslosigkeit gerinnen, wie ein Wimpernschlag in der Ewigkeit.
Ich kletterte auf den Deckenstein des Grabes und ließ mich dort in den Yogasitz fallen. Von hier aus ging der Blick weit über den See.
Wie ich so versunken in den Anblick seiner spiegelglatten Oberfläche dort saß, umgeben von einer energetischen Stille, die nur von gelegentlichen Vogelrufen unterbrochen wurde, da wurde mir erst bewusst, was ich gerade verlor. Einen Ort wie diesen würde ich nie mehr auf der Welt finden. Ganz plötzlich verstand ich, warum Estelle in ihren Aufzeichnungen für die Familienchronik auch so persönliche Momente festgehalten hatte, wie jene Nächte, in denen sie alleine im Mondlicht oder im Sturm am Steg gestanden hatte und eins mit der Natur und dieser Landschaft wurde.
Sie hatte so viel Energie aus diesem Gut
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