Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
öffnete ich die Tür zu den Damentoiletten, als ich glaubte, das Rauschen einer Wasserspülung zu hören. Zugleich drang dumpfes, rhythmisches Stöhnen an mein Ohr … fast wie bei einem Geschlechtsakt. Ich blieb verwirrt stehen, und obwohl es mir sehr unangenehm war, lauschte ich einen Moment mit angehaltenem Atem. Hatte sich da jemand aus dem Dorf in der Annahme, dass das Gut noch leer stünde, für einen unbeobachteten Quickie ins Haus geschlichen?
Ich wollte mich gerade unauffällig wieder zu Marc zurückziehen, um ihm von meiner Beobachtung zu erzählen, als ich einen grauenvollen, halb erstickten, gurgelnden Schrei hörte, der mir das Blut in den Adern stocken ließ und dem dann erneut dieses entsetzliche Gefühl der Beklemmung in meiner Brust folgte. Ich bekam keine Luft mehr und konnte nichts anderes tun, als panisch ins Freie zu rennen. In unmittelbarer Nähe lag der Hinterausgang der Küche und so hastete ich dorthin, stieß die lose in den Angeln hängende Tür auf und stürzte in den dahinter befindlichen Küchengarten. Auf einer Steinbank brach ich zwischen verwilderten Rosensträuchern keuchend nieder.
Noch nie hatte ich ein solches Gefühl von Panik erlebt. Ich fühlte mich wirklich, als wäre ich dem Erstickungstod gerade noch entkommen. Ich lehnte mich einen Moment benommen zurück und versuchte ruhiger zu atmen. Mit geschlossenen Augen begann ich zu zählen, um in einen regelmäßigen Rhythmus zurückzufinden: eins … zwei … und auf drei ausatmen …
Ich merkte, dass ich fröstelte und eine leichte Gänsehautüber meine Arme lief. Es nützte jedoch nichts, dass ich meine Strickjacke enger um mich zog. Diese Kälte kam nicht von außen, sondern aus meinem erschütterten Inneren.
So öffnete ich vorsichtig wieder die Augen. Mein Blick glitt über den verwilderten Garten – eigentlich ein sehr idyllischer Fleck, den ich jedoch in dieser Situation nicht genießen konnte. Einige Beete wurden von wild ausgeschossenen Buchsbaumhecken umrahmt. Ich stand auf und ging darauf zu. Ein sehr alter verwilderter Rosenstock war über und über mit weißen Blüten besetzt und rankte sich an einer teilweise zerbrochenen Pergola hoch.
Wie hübsch, dachte ich nun doch und nahm mir gerade vor, den Garten unbedingt wieder herzurichten, als mein Blick an einer Art Gedenkstein hängen blieb. Wieder fröstelte es mich, während ich versuchte, die verwitterte Inschrift zu entziffern.
Du gingst, bevor du da warst. 11.12.1924 stand darauf und der Name Wolfgang, unter den scheinbar später ein zweiter Name eingemeißelt worden war. Nur Lysander , kein Nachname, und auch hier nur ein Satz und ein nacktes Datum: Dein Herz heimgekehrt zur ewigen Ruhe, Februar 1944.
Wie mysteriös, dachte ich und konnte den Stein überhaupt nicht einordnen. Woran sollte er erinnern? Oder bedeckte er vielleicht gar ein Grab? Zu ärgerlich, dass meine Mutter mir überhaupt nichts aus der Familiengeschichte erzählt hatte und ganz offensichtlich auch nicht vorhatte, es jemals zu tun. Wie es schien, barg das Gut mehr Geheimnisse, als ich erwartet hatte. Nicht nur das eines mysteriösen Fremden, der junge Frauen in ihren Träumen heimsuchte.
Dann entdeckte ich einen von Efeu fast vollständig überwucherten zweiten Stein, der sich zweifelsfrei als Grabsteinentpuppte. Denn nachdem ich die Efeuranken ein wenig zur Seite geschoben hatte, konnte ich die Lebensdaten und den Namen des Toten lesen: Conrad Lenz … gestorben 1942, kaum älter als vierzig Jahre geworden. Wer mochte das gewesen sein? Auch hier eine merkwürdige Inschrift: Unter dem Schwarzen Mond brach der mystische Bann!
Klang ziemlich esoterisch. Jedenfalls bewies derjenige, der diese Inschriften einmeißeln ließ, einen Hang zu rätselhaften Verschlüsselungen. Schwarzer Mond? Was sollte das sein? Neumond? Eine Mondfinsternis? Irgendein unbekanntes kosmisches Ereignis?
Ob zwischen dem Mann aus meinen Träumen und diesen Gräbern vielleicht eine Beziehung bestand? Aber darüber wollte ich lieber nicht weiter nachdenken. Ein Traumgeist war noch irgendwie romantisch, ein Geist, der sich aus einem Grab erhob, jedoch nur gruselig und makaber. Nein, in die Richtung wollte ich einfach nicht spekulieren. Außerdem war mein »Geist« ja auch sehr viel jünger und seine Küsse wirkten alles andere als tot. Nein, das war kein Liebhaber aus der Gruft, sondern eher ein Geschenk des Himmels. Vielleicht eine Art Engel? Wo die zurzeit in der Literatur eine regelrechte Renaissance erlebten,
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