Die Dunkle Erinnerung
wusste, dass es ein Kampf auf Leben und Tod wird, war's schon vorbei.« Wieder schloss sie die Augen. »Er ist bloß schneller bösartig geworden.«
Immer wieder senkten sich lange Pausen des Schweigens zwischen sie beide, während sie Richtung Washington fuhren. Am Himmel ballten sich Wolken und verdeckten die Sonne, der Nachmittag versprach trüb zu werden. Die Bäume am Straßenrand zeigten den ersten Anflug von Herbst. Er war über Nacht gekommen.
Alec dachte über die Frau auf dem Beifahrersitz nach. Je länger er mit ihr zusammen war, desto faszinierender fand er sie. Sie war eine komplexe Persönlichkeit, interessant und problematisch.
Zuerst hatte er nur die Kämpferin gesehen – den Teil von ihr, den sie der Welt zeigte. Ihre Kraft war wie ein Panzer, der sie schützte und andere Menschen auf Distanz hielt. Doch Erin war auch eine Hüterin, sie sorgte sich um die Schwester und die kleine Nichte. Sie war ein verletzlicher, mitfühlender Mensch, der von heimlicher innerer Schuld zerrissen wurde.
Nun hatte Alec zum ersten Mal Einblick in die Seele der Frau bekommen, die mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert worden war, und er spürte den drängenden Wunsch, sich zwischen sie und die Gefahr zu stellen.
»Sie haben Glück, dass Sie noch am Leben sind«, sagte er und mied ihren Blick, damit sie seine Gedanken nicht lesen konnte.
»Ja.«
»Warum war er immer noch in der Klinik?«
Erin wandte den Kopf und schaute ihn an.
»Ich meine …« Alec zögerte. »Wenn er nach Gentle Oaks gekommen ist, um Claire zu töten, Sie sie aber vorher mitgenommen haben – warum ist er dann geblieben? Man könnte ja fast glauben, der Kerl hätte auf Sie gewartet.«
»Vielleicht dachte er, ich bringe Claire zurück, oder er könnte erfahren, wohin ich sie verfrachtet habe.« Erin wandte den Blick ab und schloss wieder die Augen.
»Vielleicht hat er tatsächlich auf Sie gewartet«, meinte Alec.
Erin schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht. Er wirkte sehr überrascht, als er mich sah, und sagte, Claire hätte eigentlich als Erste sterben sollen.«
»Als Erste?«
Erin schwieg einen Augenblick. »Ja«, sagte sie dann. »Sieht so aus, als hätte ich ihm die Tour vermasselt.«
General Nevilles Butler ließ sie in die Halle eintreten, verlieh seinem Missfallen aber deutlich Ausdruck. Alecs Dienstmarke konnte ihn nicht beeindrucken. Der Mann wusste offenbar genau, dass das FBI keine Handhabe gegen seinen Arbeitgeber hatte, und er war nicht einmal ansatzweise eingeschüchtert. Schließlich bewirkte nur Erins und Alecs strikte Weigerung, das Grundstück zu verlassen, dass ihnen Zugang gewährt wurde.
Dann warteten sie. Zehn Minuten. Fünfzehn Minuten.
Erin ließ sich auf der Treppe nieder, weil es keine andere Sitzgelegenheit gab. Alec schäumte vor Wut, weil Erin dringend ins Krankenhaus gehörte und zum anderen weil Neville sie so lange warten ließ – und zwar allein deshalb, weil er die Macht dazu besaß. Alec erwog, durch sämtliche Zimmer zu stürmen und den Mann zu suchen, besann sich dann aber eines Besseren. Mit einer solchen Aktion würde er sich nur selbst hinter Gitter bringen.
Nach einer Wartezeit von fünfundvierzig Minuten kam der Butler zurück und warf Erin einen vorwurfsvollen Blick zu. »General Neville ist jetzt bereit, Sie zu empfangen.«
Alec sah, wie sehr es dem Mann gegen den Strich ging, doch er führte sie durch einen schmalen Korridor und eine Doppeltür in William Nevilles Arbeitszimmer.
Alles in diesem Raum kündete von Reichtum. Dunkles, schweres Mobiliar. Teppiche, die mehr wert sein mussten, als Alecs Jahresgehalt betrug. Bilder, die so vertraut wirkten, dass es sich um Originale handeln musste. Der General, der hinter einem Schreibtisch mit kunstvollen Schnitzereien saß, war untadelig gekleidet.
Wieder mussten sie warten, weil Neville noch einige Papiere auf seinem Schreibtisch las und andere unterzeichnete. Alec stand kurz davor, die Geduld zu verlieren, als Erin ihm zuvorkam.
»Verzeihen Sie, General«, sagte sie, »aber wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Neville blickte auf und lächelte verbindlich. »Nanu, Miss Baker. Das ist aber nett, dass Sie mich besuchen kommen. Sie sehen heute Nachmittag wirklich bezaubernd aus.«
»Gefällt es Ihnen?« In ihrer Stimme lag eine Schärfe, die sie auf der Botschaftsparty nicht an den Tag gelegt hatte. »Das ist der Kneipenschläger-Look. Vielleicht habe ich das Ihnen zu verdanken.«
»Mir? Aber nein. Allerdings bin ich nicht
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