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Die Dunkle Erinnerung

Die Dunkle Erinnerung

Titel: Die Dunkle Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Lewin
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flatterte noch ein abgerissenes Stück Absperrband. Das Gras war von den vielen Füßen herausgerissen, die Büsche eingedrückt.
    Die Wunden des Parks würden heilen, doch dazu brauchte es mehr als ein Aufräumkommando. Es brauchte Zeit. Das konnte Erin nur zu gut nachvollziehen.
    Als sie sich auf den Joggingpfad begab, beschleunigte sie das Tempo. Sonst musste sie sich den Weg mit anderen Joggern und Spaziergängern teilen. Heute jedoch, zu dieser frühen Stunde, war sie allein mit der Stille. Und mit ihren Gedanken.
    Erin wusste, dass sie das Rätsel um den Eismann und seine Zaubertricks ruhen lassen sollte. Keiner würde verstehen, warum diese Geschichte sie nach all den Jahren immer noch verfolgte und warum sie so versessen darauf war, den Mann zu finden, der das Leben ihrer Schwester zerstört und ihrer Familie so viel Schmerz zugefügt hatte. Jeder, der mit dem Fall vertraut war, glaubte doch, dass Claires Entführer seine gerechte Strafe in einem kalifornischen Gefängnis absaß.
    Ihre Mutter hätte es Besessenheit genannt. Doch auch Elizabeth Baker hatte ihre Obsessionen gehabt und in Wodka und Zigaretten Trost gesucht. Marta würde Erin vorwerfen, sie versuche, eine Schuld zu lindern, die sie gar nicht verdient habe, aber Marta war am Tag von Claires Verschwinden ja auch nicht dabei gewesen. Nur Erin. Und deshalb konnte sie das Problem nicht loslassen, konnte nicht so tun, als hätte sie heute keinen mutmaßlichen Entführer gesehen.
    Sie musste ihr Gleichgewicht finden, ihre ganz persönliche Erlösung.
    Solange die Möglichkeit bestand, dass der Mann aus dem Park etwas mit Claires Entführung zu tun gehabt hatte, musste Erin der Sache nachgehen. Sie musste herausfinden, wer der Mann war und was er im Park getan hatte. Falls sie herausfand, dass er tatsächlich der Entführer ihrer Schwester war, würde Erin diesen Zauberer dafür bezahlen lassen und dafür sorgen, dass er nie wieder einem Kind oder dessen Familie ein Leid zufügen konnte.
    Am Montag würde sie alle Kurse absagen und ihr Büro in Washington aufsuchen. Dort hatte sie Zugang zu einem Computernetzwerk, das sie von Georgetown aus nicht anzapfen konnte. Sie würde Kauffman und Beckwith durchleuchten und sich die alten Akten über Claires Entführung anschauen. Und dann würde sie den Mann mit den Zaubererhänden finden.
    Erin wusste, sie bewegte sich auf dünnem Eis, wenn sie CIA-Quellen für eine private Ermittlung benutzte. Wenn man ihr auf die Schliche kam, würde sie sich mindestens eine Rüge, schlimmstenfalls die Kündigung einhandeln. Aber damit konnte sie leben, wenn sie nur endlich den Albtraum der Entführung ihrer Schwester vergessen konnte.
    Plötzlich spürte sie etwas.
    Ein kalter Hauch, der ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Und dann hörte sie es.
    Schritte. Rasche, regelmäßige Schritte. Hinter ihr. Sie folgten ihr.
    Erin lief weiter, mit einem Mal völlig konzentriert. Ihre Muskeln waren angespannt, bereit zum Angriff. Sie atmete tief und gleichmäßig. Und lauschte. Eine Minute. Zwei. Doch die Schritte, so schien es, kamen nicht näher.
    Lief noch ein Jogger zu dieser frühen Stunde durch den Park?
    Natürlich, was denn sonst. Allmählich litt sie offenbar unter Verfolgungswahn. Dieser Weg wurde viel genutzt. Die frühe Stunde musste sie genarrt haben. Erin stoppte abrupt und wirbelte herum, zum Angriff bereit. Doch im gleichen Augenblick war die große schattenhafte Gestalt bereits in den Büschen verschwunden, deren Äste und Zweige noch zitterten.
    Ein kalter Schauder durchrieselte Erin.
    Der Mann beobachtete sie. Kein harmloser Jogger, sondern jemand, der sie verfolgte. Natürlich musste er nicht unbedingt gefährlich sein. Es konnte sonst wer sein. Ein Obdachloser, der sich Schutz suchend zwischen den Büschen verkroch. Ein Räuber, der glaubte, ein leichtes Opfer gefunden zu haben. Oder etwas, nein, jemand, von dem eine ganz andere Gefahr ausging …
    Erin blieb abwartend stehen und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie ja nicht wehrlos war. Sie hatte schon viele gefährliche Gegner bezwungen, nicht nur im Boxring in Langley. Sie konnte auf sich aufpassen. Dennoch sah sie ein Händepaar vor sich, das so leicht, so beiläufig töten konnte, wie es Münzen aus den Ohren eines Kindes zog.
    Nichts rührte sich.
    Kein Laut. Keine Bewegung. Aber er war immer noch da, nur außer Sicht, im dichten Unterholz verborgen. Erin spürte, dass er sie anschaute, eine Drohung im Blick. Zum ersten Mal im Leben verstand sie

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