Die Dunkle Erinnerung
die Bedeutung des Wortes Gänsehaut. Sie überlegte, ob sie den Mann anrufen, sich ihm entgegenstellen sollte. In die Offensive gehen.
Immerhin war er nicht mehr hinter ihr.
»Hast du Angst, dich mir zu stellen?« Erin legte all ihren Mut in diesen Satz, all die Überheblichkeit, die sie in fünf Jahren Zusammenarbeit mit testosterongeschädigten Männern gelernt hatte. »Versteckst du dich deshalb im Gebüsch?«
Keine Antwort.
Nur eine spürbare Woge der Belustigung, die auf sie zuschwebte.
Sie litt wohl unter Halluzinationen! Wenn der Mann noch im Gebüsch steckte, hatte er wahrscheinlich mehr Angst vor ihr als sie vor ihm. Und es war unmöglich, über diese Entfernung hinweg so etwas wie Belustigung zu spüren!
Sei kein Idiot.
Der Gedanke war klar und hell. Erin wusste, sie bildete sich nichts ein. Wäre sie in Bagdad gewesen oder in Kairo, hätte sie sich voll auf ihren Instinkt verlassen. Sie hätte die Gefahr erspürt, hätte sie akzeptiert und sich ihr gestellt. Hier jedoch, in der Vorstadt von Washington, stellte sie ihren Instinkt infrage.
Das konnte ihr den Tod bringen.
Also streifte Erin jeden Zweifel ab und horchte auf die innere Stimme, die ihr riet, schleunigst aus dem Park zu verschwinden. Nach Hause. Da sie weder Waffen bei sich trug noch eine klare Vorstellung ihres Gegners hatte, wäre es dumm gewesen, noch länger zu verweilen.
Blieb nur die Frage: Wie sollte sie flüchten?
Erin hatte vor kurzem den Zweimeilenstein passiert. Bis dahin war es leicht zu schaffen, nur leider stand er zwischen ihr und der Einmündung des nächsten Pfades. Und die andere Richtung war noch ungünstiger: sechs Meilen bis zum Parkausgang, rechts der Bach, links der Wald. Da würde sie in eine Sackgasse laufen.
Blieb nur eine einzige Möglichkeit. Den gleichen Weg zurückzulaufen, den sie gekommen war.
Mit dem Rücken zum Wasser schlich Erin in ihrer eigenen Spur zurück, während sie auf verräterische Bewegungen im Gebüsch achtete. Jeder Schritt brachte sie näher an die Stelle, wo die schattenhafte Gestalt den Pfad verlassen hatte, bis sie auf wenige Meter herangekommen war. Nur noch knapp zwei Meter. Eine leicht zu überwindende Distanz für einen Angriff. Erin spannte alle Muskeln an. Sie wusste, es ging um Leben oder Tod.
Doch da war kein Angreifer.
Dann hatte Erin die Stelle passiert. Immer noch spähte sie wachsam ins Gebüsch, während sie sich mehr und mehr entfernte. Zwei Meter. Drei.
Erin schwenkte herum und lief zu der Stelle, wo der Weg in den Park zurückführte. Sie unterdrückte das Verlangen loszusprinten. Falls er ihr folgte, würde sie ihre Kräfte noch brauchen.
Nachdem sie ein, zwei Minuten nichts mehr gehört hatte, wurde sie noch langsamer. Am Einmeilenstein begann sie, wieder leichter zu atmen.
Doch dann überfiel sie von neuem das Gefühl, verfolgt zu werden. Diesmal war der Verfolger dichter aufgerückt.
Erin sprintete los. Sie wusste, es war ein Fehler, doch nun ließ sie sich von ihrer Furcht leiten. Ließ jahrelanges Training zunichte machen. Das konnte ihr Untergang sein. Doch als sie um die letzte Biegung hetzte und bereits den Spielplatz sah, legte sie noch zu. Obwohl sie nichts mehr hörte, keine Bedrohung spürte, bis …
Erin blieb wie angewurzelt stehen. Die Angst fuhr ihr in die Magengrube, als die dunkle Gestalt vor ihr aus dem Gebüsch trat. Hoch gewachsen, breitschultrig und kräftig, bewegte er sich in eindeutiger Absicht auf sie zu.
11.
Isaac hätte sie töten können.
Es wäre ganz leicht gewesen, hätte kaum Anstrengung gekostet. Sie stand nur wenige Schritte entfernt, er konnte spüren, wie der Mut aus ihr herausströmte wie Blut aus einer Wunde. Sie hatte sich dagegen gewehrt, doch vergeblich. Am Ende hatte die Furcht sie ausgelaugt.
Sicher, sie hätte gekämpft. Isaac hatte in den letzten Stunden einiges über diese Frau in Erfahrung gebracht. Es wäre eine interessante Begegnung geworden.
Einer der Cops im Park hatte Isaac ihren Namen verraten. Danach war es ein Kinderspiel, Adresse und Beruf zu ermitteln und ihre Schwester Claire aufzustöbern. Nachdem er dem General mitgeteilt hatte, was er über Erin Baker wusste, hatte Isaac indes noch ein wenig tiefer gegraben. Dass sie Kampfsport trainierte, war interessant, aber nicht ungewöhnlich. Doch dass sie Meisterin in asiatischer Kampfkunst war, weckte seine Neugier. Trotzdem war sie kein Killer. Ihr fehlte der Instinkt. Deshalb war sie bei jedem Kampf im Nachteil. Isaac hätte sie besiegen können
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