Die Dunkle Erinnerung
Büsche ab. Zwar wurde es allmählich hell, aber immer noch waren da zu viele Schatten, zu viele Verstecke für einen im Verborgenen lauernden Mann. »Sie haben mir ja gesagt, dass Sie immer sehr früh joggen gehen. Ich habe bei Ihnen vorbeigeschaut, aber Sie waren nicht da, also kam ich her und wollte warten, bis Sie Ihre Runde beendet haben. Haben Sie ihn gesehen?«
»Nur einen Schatten.« Erin holte tief Luft und schien einen Schauder zu unterdrücken. »Jetzt ist er allerdings weg.«
Alec begriff, dass sie eine Heidenangst hatte. Und sie war gewiss keine Frau, der man so leicht Angst einjagen konnte. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja.« Jetzt erst sah Erin die Waffe in seiner Hand und musste lachen. »Hatte wahrscheinlich gar nichts zu bedeuten.« Doch ihr Tonfall strafte ihre Worte Lügen.
»Vielleicht.« Vielleicht aber auch nicht. Angenommen, sein Verdacht stimmte, und sie waren gestern Abend tatsächlich auf eine heiße Spur gestoßen … Dann sollte sie wirklich nicht mehr allein laufen, und wenn sie noch so viele schwarze Gürtel besaß.
»Am besten unterhalten wir uns woanders weiter«, schlug Alec vor und steckte die Waffe ins Halfter zurück. »Einen Block weiter gibt's ein Diner, das die ganze Nacht geöffnet hat. Gehen wir?«
Erin nickte und setzte sich in Bewegung. Alec blieb noch ein wenig zurück und betrachtete argwöhnisch den Joggingpfad und das dichte Gebüsch, das ihn zu beiden Seiten säumte.
War er etwa immer noch hier? Und beobachtete sie?
Schaudernd wandte er sich um und schloss zu Erin auf.
Schweigend gingen sie durch den Park. Alec konnte förmlich spüren, wie sie sich wieder in die nüchterne, klar denkende Frau zurückverwandelte, die er am vergangenen Abend kennen gelernt hatte. Erst als der Park ein ganzes Stück hinter ihnen lag, brach sie das Schweigen.
»Also, was will das FBI von mir?«
»Nicht das FBI. Ich.«
Erin warf ihm einen überraschen Blick zu. »Agent Donovan, wollen Sie mich etwa anbaggern?«
Alec spürte, wie er rot wurde. Die Vorstellung, dass er es auf Erin Baker abgesehen haben könnte, gefiel ihm besser, als er offen zugeben würde. Unter den gegebenen Umständen war es überdies unklug. Immerhin war er auf der Jagd nach einem Entführer, möglicherweise einem Serientäter. Da konnte er sich keine Ablenkung durch eine Frau leisten, selbst wenn sie so faszinierend war wie Erin Baker.
»Nein«, erwiderte er hastig. »Ich meine …« Er schüttelte den Kopf, um die verstiegene Einbildung loszuwerden. »Ich wollte Ihnen nur ein paar Fragen über das vermisste Mädchen stellen.«
»Es gibt doch gar kein vermisstes Mädchen mehr, oder?« In Erins Stimme lag nur eine Spur Sarkasmus. »Sie wurde doch im Gebüsch gefunden.«
»Aber wir haben einen vermissten Jungen.« Alec zog einen braunen Ordner aus der Jackentasche, nahm ein Foto von Cody Sanders heraus und hielt es Erin hin. »Er ist jetzt seit fünf Tagen verschwunden.«
Erin gönnte dem Foto keinen Blick. »Ich meine mich zu erinnern, dass wir uns bereits darüber unterhalten haben. Ich sagte Ihnen, dass ich stets die Nachrichten verfolge, und Sie sagten, dass es vielleicht eine Verbindung zwischen den beiden Fällen gebe.«
Alec wollte ihr noch eine Menge erzählen, wahrscheinlich mehr, als gut für ihn war. Aber er war auf ihre Hilfe angewiesen. »Dann wissen Sie ja auch, dass uns die Zeit davonläuft. Je länger Cody verschwunden bleibt, desto geringer ist die Chance, ihn noch lebend zu finden. Wenn überhaupt.«
Erin blieb stehen und starrte ihn an. »Und was hat das mit Chelsea Madden zu tun? Oder mit mir?«
»Sie glaubten gestern doch, dass sie entführt wurde.« Alec ließ das Foto wieder in die Tasche gleiten. »Und dann ausgesetzt wurde, damit wir sie finden.«
Erin gab keine Antwort. Wozu auch? Sie hatte der Polizei gestern Abend ihren Standpunkt gründlich dargelegt. Sie hatte sich beherrscht. Hatte den Beamten in ruhigem Ton zu verstehen gegeben, dass sie einen Fehler machten.
»Und Sie glauben, der Täter war jener Mann, den Sie im Park gesehen haben?«, fuhr Alec fort. »Der Mann, den Sie vor neunzehn Jahren in Miami sahen?«
»Selbst wenn Sie mir die Geschichte nicht abkaufen – und das kann ich Ihnen nicht einmal übel nehmen –, gibt es doch zu viele Übereinstimmungen, um Chelseas Verschwinden einfach zu übergehen.« Erin setzte sich wieder in Bewegung. »Sie müssen nach jemand suchen, der sowohl für ihre Entführung als auch für ihre Freilassung ein Motiv
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