Die Dunkle Erinnerung
in ihm auf. »Zweiundzwanzig Kinder.«
In Erins Augen stand das blanke Entsetzen, sonst war ihr nichts anzumerken. Sie konnte ihre Gefühle gut verbergen, nur ihre Augen verrieten sie. Sie dachte an die Familien, die unter dem Verlust eines Kindes zu leiden gehabt hatten. Dieser Schmerz war ihr nur zu nah.
Deshalb brauchte Alec ihre Hilfe.
»Die Kinder waren während der vorangegangenen zwölf Monate nacheinander aus verschiedenen Teilen des Landes gekidnappt worden. Auf die meisten passte ein bestimmtes physisches und sozioökonomisches Profil.« Er schwieg einen Moment, sammelte seine Gedanken. »Die meisten waren blond, aber es gab auch ein paar Rothaarige darunter. Alle hatten eine helle Hautfarbe und stammten hauptsächlich aus sozial schwachen Familien. Viele der Älteren, der Neun- bis Zwölfjährigen waren der Polizei bereits als notorische Ausreißer bekannt.«
»Warum habe ich nie etwas darüber gehört?«
»Weil die Geschichte mit absoluter Geheimhaltung behandelt wurde. Keinerlei Informationen sollten an die Öffentlichkeit dringen.« Wieder beugte er sich vor, senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Denken Sie doch nur an die Schlagzeilen: Amerikanische Kinder nach Übersee verkauft! Da würde es keine Kriegserklärung mehr geben. Jeder Moslem von hier bis Kalifornien würde einfach auf der Straße gelyncht.«
»Was ist mit den Kindern geschehen?«
Die Kellnerin kam zum Nachschenken. Alec wartete, bis sie wieder gegangen war. »Keines der Kinder war verletzt, doch sie wurden zur Beobachtung und Therapie ins Krankenhaus eingewiesen, bevor man sie nach Hause brachte.«
»Damit das FBI sie verhören konnte.«
»Wir wollten ein bisschen mehr als nur die Schiffsbesatzung oder den Kapitän.« Alec lehnte sich zurück. Er spürte die Wirkung des Koffeins an seiner gesteigerten Anspannung. »Leider konnten uns die Kinder kaum helfen. Die meisten waren zu jung oder zu traumatisiert, um uns irgendetwas Nützliches zu erzählen.«
»Die meisten?« Sie war wirklich schnell, hatte das Ungesagte bereits begriffen. »Es gab also Ausnahmen?«
»Eine. Sie hieß Suzie. Und sie konnte uns etwas über den Entführer sagen.«
»Den Magician?«
»Ich war damals in LA und wurde herbeizitiert, um bei den Vernehmungen Unterstützung zu leisten. Suzie war eine altkluge Zehnjährige, die einen Monat zuvor von einem Rummelplatz entführt worden war.« Ein streitbarer kleiner Rotschopf mit spitzer Zunge und schlechtem Benehmen. Eine Göre, die wusste, wie man überlebte. Falls er jemals eine Tochter haben sollte, dann eine wie Suzie. »Sie behauptete, ihr Entführer habe den Kindern Zaubertricks vorgeführt.«
Alec ließ ihr einen Augenblick, um alles zu verdauen. Währenddessen trank er seinen Kaffee aus. Erin hingegen hatte ihre Tasse kaum angerührt. »Möchten Sie etwas anderes?«
Erin schüttelte den Kopf. »Nein, ist schon in Ordnung. Was ist denn bei der Aussage des Mädchens herausgekommen?«
»Nicht viel. Keines der anderen Kinder konnte Suzies Story bestätigen, und der Mann wurde nie gefunden oder identifiziert.« Alec zuckte die Achseln. »Der Fall ist immer noch nicht abgeschlossen, sondern ruht seit Jahren. Was den Magician angeht …« Wieder zögerte er. »Immerhin hörten wir nicht zum ersten Mal von einem Kidnapper, der Zaubertricks vorführte. Seit zwanzig Jahren hat es immer wieder sporadisch Berichte über einen solchen Täter gegeben.«
»Aber keiner glaubt, dass er wirklich existiert?«
»Ich bin nicht mal sicher, ob ich vor Suzies Vernehmung selber daran geglaubt habe. Verstehen Sie – der Magician ist eine Art Mythos geworden: der große Unbekannte, der der Polizei immer wieder durchs Netz schlüpft. Und jedes Mal, wenn wir ein vermisstes Kind nicht finden können, geben wir die Schuld dem Mann, den ohnehin niemand fangen kann.«
Es klang wie eine lahme Entschuldigung von faulen Cops und FBI-Agenten, deren Aufgabe eigentlich darin bestehen sollte, die Suzies und Codys dieser Welt zu beschützen. Doch Alec meinte es eher als Verteidigung, als Erklärung und Rechtfertigung von Versagen. »Und als Sie dann mit Ihrer Story aufgetaucht sind …«
Er beobachtete, wie Erin Baker das Gesagte verdaute. Cathy hatte die Frau gründlich durchleuchtet, doch ihre Ergebnisse passten in keiner Weise zu dem Menschen, der ihm in der Nische gegenübersaß.
Erin Baker war viel komplexer, als es auf den ersten Blick erschien.
»Wer ist denn nun für das Verbrechen auf der Desert Sun bestraft worden?«,
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