Die Dunkle Erinnerung
ist das einzige Bindeglied.«
Erin wandte den Blick ab, schaute durchs Fenster. Draußen war es hell geworden. Als sie Antwort gab, hielt sie den Blick auf die Straße gerichtet und schien weit entfernt. »Das ist gewiss alles sehr interessant, Agent Donovan, aber …«
»Sagen Sie bitte Alec zu mir.«
Erin schaute ihn wieder an, zögerte kurz. »Agent Donovan«, sie betonte seinen Titel und damit das Formale ihrer Beziehung, »verstoßen Sie nicht gegen ein halbes Dutzend FBI-Regeln, wenn Sie mir das alles erzählen?«
Das konnte Alec nicht leugnen. »Mindestens.«
»Aber warum? Bloß weil Sie glauben, ich könnte Ihnen bei der Identifizierung des Magician helfen – falls Sie ihn jemals finden?«
»Zunächst einmal hätte ich gern, dass Sie und Beckwith mit einem unserer Phantomzeichner zusammenarbeiten, damit wir uns ein Bild von dem Mann machen können, den Sie gestern gesehen haben.«
»Okay.« Erin nickte. »Aber deshalb sind Sie nicht hier. Sie hätten auch sonst wen schicken können, um mich zum FBI zu zitieren.«
»Da haben Sie Recht.« Alec beugte sich vor. »Ich muss einfach wissen, ob ich auf dem richtigen Weg bin oder ob alle anderen Recht haben und ich den Verstand verloren habe. Sie haben gesagt, Sie würden ihn wiedererkennen. Das ist an sich schon toll, aber vielleicht könnte Ihre Schwester auch …«
»Lassen Sie Claire aus dem Spiel!«
»Das geht nicht. Sie könnte uns eine große Hilfe sein.«
»Claire kann niemandem helfen. Nicht mal sich selbst.«
»Hören Sie mir doch zu! Sie hatten Recht mit dem, was Sie sagten – ich habe mir gestern Nacht Ihre Akte angeschaut. Ich weiß, dass Ihre Schwester vier Jahre nach der Entführung in San Francisco aufgefunden wurde.«
»Dann wissen Sie ja auch, dass der Mann, bei dem man sie gefunden hat, eine dreißigjährige Haftstrafe absitzt.«
»Ja, aber nicht wegen der Entführung Ihrer Schwester!«
»Er ist immer noch hinter Gittern. Was soll das bringen?« Doch es setzte ihr zu, das sah Alec wohl. Wenn es um ihre Schwester ging, konnte Erin ihre Gefühle nicht so gut verbergen. »Er hat gesagt, er habe sie auf der Straße gefunden und ihr ein Obdach gegeben.«
»Das haben Sie aber nicht geglaubt.«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Agent Donovan, weil meine Schwester bei seinem Prozess die Aussage verweigerte. Zunächst glaubten wir ja noch, dass sie irgendwann über ihr Martyrium reden würde, wenigstens mit den Ärzten. Schließlich begriffen wir, dass es nicht ums Wollen ging: Sie konnte einfach nicht. Sie weiß nicht, wer sie entführt hat oder was in den vier Jahren mit ihr geschehen ist. Und wir anderen …«
»Wollten es nicht wissen.«
Erin zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. »Das ist nicht wahr! Ich würde alles dafür geben, damit der Schuldige bestraft wird.«
»Dann helfen Sie mir.« Alec beugte sich vor und nahm ihre Hand. »Es ist jetzt fünfzehn Jahre her. Sie braucht uns doch nur irgendwas über den Entführer zu erzählen. Gut wäre natürlich, wenn sie die Sache mit den Zaubertricks bestätigen kann. Mehr brauche ich ja gar nicht.« Damit würde Alec seinen Vorgesetzten klar machen können, dass er mehr Leute für die Ermittlung benötigte.
Erin entzog ihm ihre Hand und verbarg sie unter dem Tisch. »Haben Sie nicht zugehört? Sie kann sich nicht mehr erinnern, sie hat ihre Erinnerung ausgeblendet!«
»Vielleicht will sie sich nicht erinnern.«
»Und was wäre daran anders?«
Alec stand mit dem Rücken zur Wand. Im Unterschied zu Erin hatte er über Claire Baker kaum etwas herausfinden können. Nur dass sie unter einem Trauma litt, seit sie vor fünfzehn Jahren an der Westküste bei einer Drogenrazzia gefunden wurde. Sie durfte zwar zu ihrer Familie zurück, war aber so geschädigt, dass sie kaum einen Monat später weggelaufen war. Dieses Muster hatte sich in der Zeit ihres Heranwachsens ständig wiederholt. Sie hatte auch mehrere Selbstmordversuche hinter sich. Und im Laufe der Jahre war sie in drei verschiedenen Kliniken für Psychiatrie. Aber Zustand und Behandlung unterstanden dem Arztgeheimnis, und nicht einmal ein verzweifelter FBI-Agent konnte Zugang zu diesen Aufzeichnungen erlangen. Alec hatte gehofft, mit Erins Hilfe Kontakt zu der Frau zu bekommen, deren Geheimnis ihn auf die Spur von Cody Sanders bringen würde.
»Sie schneidet sich«, sagte Erin unvermittelt, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Wenn sie sich bedroht fühlt, nimmt sie scharfe Gegenstände und schneidet sich,
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