Die Dunkle Erinnerung
bis sie blutet. Und jede Kleinigkeit kann sie aufregen.« Sie lachte kurz und bitter auf. »Die Ärzte haben mir gesagt, das sei ein Überlebensmechanismus. Hätten Sie's gedacht? Das ist ihre Art, sich vor Selbstmord zu schützen.«
Alec spürte, wie Erins Schmerz und Verzweiflung über den Tisch schwebten und sie beide wie in einen Nebel hüllten. Claire Baker hatte einen Albtraum durchlebt, war immer noch in seinem Schreckensgriff gefangen, und Erin konnte nichts dagegen tun. Er nahm an, dass sie es hasste, so hilflos zu sein.
Nun wusste er nicht mehr, was er sagen sollte. Erins Schmerz hatte er oft genug miterlebt: bei den Eltern, die verzweifelt auf Nachricht über ihre Kinder warteten. Niemals hatte Alec Worte gefunden, um ihnen die Last zu erleichtern. Schweigend blieben sie sitzen. Es war ein ungemütliches Schweigen, da Erin Baker ihm nicht helfen konnte oder wollte. Und er spürte, wie ihm Cody Sanders entglitt, wie er hinüberglitt in das Niemandsland der verlorenen Kinder.
Nein.
Alec würde nicht aufgeben, noch nicht. Es gab noch eine Möglichkeit, noch einen Menschen, der vielleicht etwas wusste.
Unvermittelt stand Erin auf. »Ich muss jetzt nach Hause. Janie wartet auf mich.«
»Ach ja, Claires Tochter. Sie sind in die Staaten zurückgekommen, um sie aufzuziehen, nicht wahr?«
Er sah, wie sie erstarrte. »Das geht Sie überhaupt nichts an!«
Doch Alec versuchte es noch einmal. »Es geht hier nicht um Sie oder mich, Erin.« Absichtlich benutzte er ihren Vornamen, zwang sie, seine Bitte als ganz normales menschliches Anliegen zu akzeptieren. »Auch nicht um Ihre Schwester Claire. Es geht um einen Jungen. Cody Sanders. Man muss verhindern, dass ihm dasselbe geschieht wie Ihrer Schwester. Ich möchte lediglich mit Claire reden. Bald. Heute. Sagen Sie ihr, was Sie im Park gesehen haben. Und dann fragen Sie Ihre Schwester, ob sie uns bei der Suche nach Cody helfen will.«
Doch Erin schüttelte den Kopf.
»Denken Sie darüber nach«, beharrte Alec und reichte ihr seine Karte. »Sie können mich jederzeit anrufen.«
Erin starrte einen Augenblick auf die Karte. Fast glaubte er schon, sie überzeugt zu haben. Doch dann zog sie ein paar Dollarnoten aus der Tasche ihrer Sweatjacke und warf sie auf den Tisch.
»Tut mir Leid. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
13.
Schmerz weckte ihn.
Er hatte von Lavendelfeldern geträumt, die sich bis zum Horizont erstreckten. Die winzigen Blüten bildeten einen Teppich aus leuchtendem Lila, durchsetzt mit Grün. Ihr Duft war Balsam für seine Sinne. Ein wunderschöner Traum voller Süße und sanftem Versprechen, in dem er so lange wie möglich verweilen wollte. Stattdessen aber zerrte nun dumpfer Schmerz an ihm, riss ihn aus dem schönen Traum in eine Welt des harten Lichts und der scharfen Konturen.
Verwirrt öffnete Ryan die Augen. Er lag nackt auf einem Bett, nur von einer rauen Decke verhüllt, die nach Schmorfleisch und Zwiebeln stank. Ihm wurde schlecht. Er schloss die Augen und suchte wieder den Duft des Lavendels. Doch der war verschwunden.
Ebenso wie das selige Vergessen der Bewusstlosigkeit.
Stattdessen lag er in der heißen Sonne, die ihn genauso störte wie die ungewohnte Decke. Ryan zog vor dem Schlafengehen immer die Vorhänge zu, eine alte Gewohnheit, deren Ursprung irgendwo in seiner Vergangenheit liegen mochte.
Er stemmte sich hoch und war schon halb aufgestanden, als ein heißer Stich durch seine Brust schoss und ihn wieder auf die Matratze warf. Darauf folgten Bewegungslosigkeit und Atemnot. Der Schmerz tobte durch seinen Körper. Er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut aufzuschreien. Sekunden wurden zu Folterminuten. Erst nachdem der Schmerz verebbt war, vermochte Ryan sich zu erinnern.
Trader.
Wie er drohend mit wutverzerrtem Gesicht über ihm gestanden hatte. Und da war noch etwas anderes gewesen, stärker und Furcht einflößender als Traders Wut: blanker Hass.
Ryan erschauerte und spürte wieder den Schlag, der ihn erschüttert hatte, das Gefühl, als seine Haut aufgeplatzt war. Er roch wieder Traders heißen Atem, als der seine Drohungen ausgestoßen hatte. Und fühlte die wilden, unbarmherzigen Tritte in die Seite.
Stöhnend berührte Ryan seine Brust, die von einem breiten Verband umhüllt war. Wieder schloss er die Augen, vermochte kaum die Tränen der Angst zu unterdrücken. Eigentlich hätte er tot sein müssen, und es wäre bestimmt auch so gekommen, wenn er nicht …
Wie um alles in der Welt war er in sein Zimmer
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