Die Dunkle Erinnerung
zurückgekommen?
Langsam stemmte Ryan sich in eine halb sitzende Position hoch, wobei er versuchte, keine Erschütterung auf seinen Körper auszuüben und keine neuerliche Schmerzenswelle auszulösen.
Die Einzelheiten, die ihm beim Erwachen aufgefallen waren, gewannen nun an Bedeutung. Jemand hatte ihn in der Pantry aufgelesen und in sein Zimmer gebracht. Aber wer in diesem Haus stummer Diener würde so viel Mut aufbringen? Wer hatte es gewagt, die Wut des Generals – und Traders – auf sich zu ziehen, indem er ihm half? Einem Jungen, dessen Existenz man kaum zur Kenntnis nahm?
Ryan hatte in diesem Haus keinen Freund, niemanden, den es kümmerte, ob er tot war oder lebte. Und doch hatte jemand ihm geholfen. Und nicht nur in sein Zimmer getragen. Der- oder diejenige hatte ihn ausgezogen und ihm einen Verband angelegt, ihn zugedeckt und Essen, Wasser und Aspirin hingestellt, damit er beim Aufwachen etwas gegen den Schmerz einnehmen konnte. Ein ungemein tröstlicher Gedanke. Ryan merkte, wie seine Furcht beschwichtigt wurde.
Plötzlich ging ihm auf, dass es schon fast Mittag war.
Er musste Cody das Essen bringen. Keiner der Bediensteten würde es wagen, Codys Zimmer zu betreten, und Ryan durfte nicht schon wieder den Zorn des Generals auf sich ziehen, indem er seine Pflichten vernachlässigte.
Ryan zwang sich zur Langsamkeit, schwang die Beine über die Bettkante und senkte sie auf den Boden. Dann hielt er inne, weil der Schmerz wieder zu heftig wurde. Wenn er Glück hatte, war der General nicht mehr im Haus oder hatte zumindest vergessen, noch einmal nach dem Befinden seines jüngsten Gastes oder dessen Betreuer zu fragen.
Erst mal schluckte Ryan vier Aspirin, weil er die Treppe hinunter und wieder zurück schaffen musste, und er bezweifelte, dass zwei Schmerzenstöter dafür ausreichten. Daraufhin widmete er sich seinem Mahl. Cody hatte ihn gelehrt, wie wichtig es war, bei Kräften zu bleiben, auch wenn Ryan im Augenblick der Sinn kaum nach Essen stand. Er zog weite Klamotten an, um den Verband zu verstecken, und mied den Spiegel, um sein malträtiertes Gesicht nicht sehen zu müssen. Er konnte nichts dagegen tun. Wozu also sich mit dem Anblick quälen?
Inzwischen würde ohnehin das ganze Haus über den Vorfall Bescheid wissen.
Der Weg in die Küche war schon schlimm genug, schlimmer aber noch waren die Minuten, in denen er Codys Lunch zusammenstellte. Niemand sprach mit ihm, niemand nahm ihn wahr. Dennoch spürte Ryan die Blicke und Gedanken, die auf ihn gerichtet waren. Für die Bediensteten war er so gut wie tot. Nur mit dem Unterschied, dass er noch herumlief.
Mit dem Tablett in der Hand betrat Ryan die Hintertreppe. Als er die Tür hinter sich zugemacht hatte, blieb er einen Augenblick stehen, holte tief Luft und wappnete sich für den langen Aufstieg. Es war allerdings nicht so schlimm, wie er erwartet hatte. Vielleicht hatte das Aspirin seine Wirkung entfaltet, oder die Bewegung hatte seine Muskeln gelockert. Oder es lag an der Wut, die allmählich in ihm aufstieg.
Scheiß auf sie alle. Er war nicht tot. Noch nicht.
Als Ryan Codys Zimmer betrat, setzte der Junge an: »Wird aber auch verdammt Zeit. Ich …« Er brach mitten im Satz ab. »Mann, das sieht aber beschissen aus.«
Ryan musste grinsen, fast gegen seinen Willen. Es war pure Erleichterung, dass wenigstens einer im Haus ihn wahrnahm, selbst wenn er ihm sagte, dass er aussah wie ein Punchingball. »Hab schon Schlimmeres erlebt.« Eine gut gemeinte Lüge, um die Sorge des Jungen zu beschwichtigen.
»Echt?« Cody starrte ihn an – ehrfürchtig, wie es schien.
Fast hätte Ryan gelacht. Er reichte dem Jungen das Tablett. Dann wanderte er zum Spiegel und betrachtete sein Gesicht. Die linke Seite war geschwollen und rot und lila gefleckt. Der Riss zwischen Wangenknochen und Lippe war mit gelber Salbe behandelt und mit einem Schmetterlingsverband abgedeckt worden. Und er hatte zwei Veilchen, mit denen er aussah wie das Monster aus einem Horrorfilm.
»Sieht echt schlimm aus«, kommentierte er das Offensichtliche.
»Ja.« Cody zog die Augenbrauen hoch und nickte, stellte aber keine Fragen mehr. Das Tablett platzierte er auf einen Tisch vor den Kamin und setzte sich auf den Boden. »Manchmal schlägt mich Roy.«
Ryan ließ sich in einen der Sessel neben dem Tisch sinken. »Wer ist Roy?«
»Der Freund von meiner Mom.« Gierig schaufelte Cody das Essen in sich hinein. Seine Manieren hatten seit dem ersten Tag, als er jegliche Nahrung
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