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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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spätklassizistischen
Gebäudefassaden verschwunden war. Nachdenklich saßen die Freunde auf der Bank, bis
Krosick vorschlug zu gehen. Als er aufstand, schwankte er leicht, sodass Julius
ihn stützen musste. »Danke, mein wohlmeinender Kumpan«, murmelte der Fotograf, als
sie nach Hause trotteten.

Zehntes Kapitel
     
    Julius Bentheim hatte sein Zeichenmaterial
bereitgestellt und entschlüpfte in einem unbeachteten Moment den Fängen der Vermieterin,
da sich Krosick dazu herabließ, mit der alten Dame eine Runde Schach zu spielen.
Als der Zeichner nun vor dem Mietshaus stand, formte sich in seinem Kopf ein Bild,
das er aus unzähligen Kolportageromanen kannte: ein einsamer Held, der auf eine
aus dem Nebel auftauchende Kutsche wartete. Der Tag war jedoch ausgesprochen schwül
gewesen und die anbrechende Nacht entpuppte sich als entsprechend lau. Keine Spur
von diesigen Schwaden, keine versteckten Meuchelmörder, die hinter Mauervorsprüngen
auf ihre Opfer warteten.
    Bentheim
blickte auf die Uhr. Die Kutsche hatte Verspätung.
    Überreizt
schritt er auf und ab. Er hatte sich ernsthaft überlegt, schwarze Sachen anzuziehen,
sich aber letzten Endes zu seiner Alltagskleidung entschlossen. Schließlich lag
es nicht an ihm, seine Arbeit geheim zu halten. Seinen Auftraggebern war Diskretion
wichtig; also würden sie dafür sorgen, dass niemand von seinen Diensten erfuhr.
    Er drehte
sich um, als er das Trappeln von Pferdehufen vernahm. Vom Ende der Straße her preschte
eine Kalesche heran und kam vor ihm zu stehen. Es war ein weinroter Reisewagen mit
vier Rädern, der zweispännig gefahren wurde. Auf dem Bock saß ein mürrisch dreinblickender
Kutscher, der sich nicht einmal die Mühe machte, abzusteigen und den Verschlag zu
öffnen.
    »Da hinein«,
brummte er und deutete auf die Tür.
    »Hat mich
ebenfalls gefreut«, entgegnete Julius sauer und stieg ein.
    Im Innern
gab es zwei Bänke, die Platz für maximal vier Personen boten. Die Wände waren mit
Stoffen tapeziert. Die in der Decke integrierte Laterne war längst erloschen oder
vielleicht gar nie entzündet worden, doch Bentheim war dies einerlei. Im Dunkeln
fühlte er sich vor unliebsamen Blicken geschützt und konnte gleichzeitig die Gegend
betrachten.
    Die Kalesche
fuhr an.
    Er blickte
aus dem Fenster. Was er sah, waren vorbeihuschende Häuserfronten, Vorgärten, öffentliche
Brunnen und Plätze. Wenig später kam das monumentale Zeughaus in Sicht und sie bogen
auf die Prachtstraße Unter den Linden ein. Das zeitweise umfangreichste Waffendepot
Preußens beherbergte mehr als 700 Geschütze und Zehntausende von Waffen, angefangen
bei Degen und Musketen, bis hin zu Vorderladern und modernen Gewehren. Zu Bentheims
Verwunderung hielt das Gefährt am rechten Rand der Allee an. Der Schlag wurde geöffnet
und ein dunkel gekleideter Herr, in einen Havelock gehüllt, stieg zu.
    »Guten Abend«,
grüßte er. »Sie verzeihen?« Er schlug den Taschenbesatz an seinem Umhang um und
zog eine Binde hervor.
    Bentheim
verstand. Er beugte sich vor, bis der Fremde ihm die Binde um die Augenpartie gelegt
und am Hinterkopf zusammengebunden hatte. Daraufhin lehnte er sich zurück und hing
seinen Gedanken nach. Die Kalesche rollte wieder an. Wohin die Reise ging, konnte
der junge Zeichner diesmal nur ahnen. Da sie vorerst nicht wendeten, fuhren sie
gewiss die Allee entlang. Plötzlich beschrieb das Gefährt einen Bogen. Bentheim
vermutete, dass sie bei einer der alten Stadtmauern angelangt sein mussten. In westlicher
Richtung ging es hinaus nach Lützenburg, wo Schloss Charlottenburg lag, die ehemalige
Sommerresidenz der Prinzessin Sophie Charlotte von Hannover. Für geraume Zeit hatte
er das Gefühl, vor seinem inneren Auge dem Verlauf der Fahrt noch leidlich folgen
zu können, doch bald einmal musste er sich eingestehen, dass er hoffnungslos die
Orientierung verloren hatte.
    Die Geräusche
der Stadt nahmen ab, bis nur noch jene der freien Natur vorherrschten. Die Räder
holperten nicht mehr über Kopfsteinpflaster, sondern fuhren lange über gewalztes
hartes Erdreich und schließlich über knirschenden Kies, bis sie zum Stehen kamen.
Sie mussten sich auf der Zufahrt zu einem Landhaus befinden. Als Julius ausstieg
und sich die Beine vertrat, ließ die Binde vor seinen Augen außer ein paar undeutlichen
hellen Punkten nichts erkennen. Die Lichter bewegten sich und Stimmen wurden laut.
    Diener mit
Laternen, wurde es Bentheim bewusst. Sie sind hier, um mich ins Haus zu geleiten.
    »Kommen
Sie,

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