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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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angenommen hatte. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Romane, die
er Filine ausleihen wollte: ›Der Mönch‹ von Matthew G. Lewis, ›Das Geisterschiff‹
von Kapitän Frederick Marryat und sogar ›Das Petermännchen‹ von Christian Heinrich
Spieß. Besonders der letzte Band hätte Pastor Sternberg in Rage versetzt, handelte
er doch von dem edlen Ritter Rudolf, der von einem satanischen Geist dazu verführt
wird, mit der eigenen Tochter Blutschande zu treiben, sechs Jungfrauen zu schänden
und 70 Menschen zu ermorden. Mit einer unwirschen Handbewegung fegte Julius die
Bücher von der Tischplatte. Was waren diese Werke doch im Vergleich zu den pornografischen
Skizzen, die der Pastor entdeckt hatte?
    Betrübt
zog der Tatortzeichner den Stuhl ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter.
Fuhrwerke holperten vorüber, einige Passanten spazierten vorbei. Er mochte wohl
schon zwei Stunden so gesessen haben, als ihm inmitten des nachmittäglichen Gedränges
eine Frau besonders ins Auge fiel. Sie hielt auf Amalia Loschs Haus zu und Julius
erkannte in ihr die Anstandsdame aus dem Hause Sternberg. Obwohl sie eine Haube
trug, welche fast nur noch Nase, Augen und einen Teil der Wangen erkennen ließ,
stand ihr die Aufregung ins Gesicht geschrieben. Julius sprang auf. In jedem Augenblick
könnte sie unten an der Tür sein und die Klingelschnur ziehen. Tatsächlich! Da vernahm
er sie schon.
    Was sollte
er tun? Sie etwa empfangen? Er könnte sich verleugnen lassen, aber er erkannte,
dass dies eine unüberlegte Handlung war. Schlimmer konnte die Sache nicht kommen,
und – wer weiß? – vielleicht brachte die Lembke ja gute Nachrichten.
    Amalia Losch
hatte Hedwig Lembke bereits eingelassen. Julius stand auf dem obersten Treppenabsatz,
als die Witwe ihren Gast nach dem Begehr fragte.
    »Zu Julius
Bentheim«, sagte die Frau außer Atem. »Er wohnt doch hier?«
    »Möchten
Sie in der Küche warten? Ich werde ihn von Ihrem Kommen unterrichten.«
    »Ich bin
schon hier, Frau Losch.« Er kam die Treppe herunter und reichte der Besucherin die
Hand. Das schlechte Gewissen plagte ihn. Viel zu oft hatten er und Filine die Anstandsdame
an der Nase herumgeführt und sie mit zweideutigen Bemerkungen gehänselt. Doch die
Miene der Alten zeigte keinerlei Häme oder Schadenfreude; vielmehr waren ihre Augen
vor Schreck geweitet, ihre Wangen gerötet.
    »Sie müssen
uns helfen, Herr Bentheim. Ich weiß keinen anderen Rat. Ach, es ist zu schrecklich.
Wenn es bekannt würde … Wir wären
verloren.«
    »Was ist
passiert?«, fuhr Bentheim sie erregt an.
    »Der Pastor
– er ist wahnsinnig! Nur ein Tobsüchtiger ist imstande, das zu tun, was er getan
hat.«
    Amalia Losch
packte die Dame resolut an den Oberarmen. »Kommen Sie, meine Gute, hier herein,
in die Küche. Setzen Sie sich, entspannen Sie sich. Und dann berichten Sie von Anfang
an.«
    Sie führte
Frau Lembke in den Nebenraum, wo sie stets das Frühstück für die Pensionsgäste herrichtete,
und wies ihr einen Stuhl zu. Die Alte nahm die Haube ab. Ihre bleiche, spitze Nase
ragte wie eine Gewürzgurke hervor.
    Mit einem
anklagenden Seitenblick zu Julius begann sie: »Gestern kam der Pastor völlig verstört
nach Hause. Er zeterte, Herr Bentheim, und rief immerzu Ihren Namen, den er mit
den beleidigendsten Attributen bedachte, die ich je gehört habe. Als ich ihn zu
beruhigen versuchte, wurde er auch mir gegenüber ausfallend. Dies dauerte bis weit
nach Mitternacht. Er hatte sich in seinen Gebetsraum eingeschlossen, wo er tobte
und Zwiesprache hielt – mit sich selber oder mit dem Herrgott, das vermag ich nicht
zu sagen. Als in mir bereits Hoffnung aufkeimte, das Schlimmste hinter uns zu wissen,
fuhr er wie der Leibhaftige aus seiner Kammer. Ich hatte mich noch nicht schlafen
gelegt, denn die nervliche Zerrüttung meines Herrn beunruhigte mich. So sah ich
ihn in den Gang treten, die Augen vor Zorn weit aufgerissen, die Haare zerzaust.
›Aus dem Weg, Elende!‹, fuhr er mich an. ›Aber Herr Pastor, beruhigen Sie sich doch,
Sie wecken das Kind auf‹, versuchte ich ihn zu begütigen. Doch in meinen Worten
fand sich kein Balsam für seine Seele. Ruhelos irrte er durchs Haus, treppauf, treppab,
suchte schließlich sein Arbeitszimmer auf und verschloss die Tür. Es ist nicht meine
Art, privaten Geheimnissen auf den Grund zu gehen; doch für dieses eine Mal kniete
ich mich nieder, um ihn durchs Schlüsselloch zu beobachten. Mit einem Brieföffner
stach er auf ein Papier oder eine Art

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