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Die dunkle Quelle

Die dunkle Quelle

Titel: Die dunkle Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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ihm
inzwischen auf den Tisch gelegt hatte, nahm er gleich auf und legte sie
zusammen mit dem Brief des Waldläufers auf Reyrens Stehpult. Der junge
Schreiber war nicht in seiner Stube, wahrscheinlich suchte er wieder etwas in
Yornbas Pergamenttürmen.
    Rodraeg brachte die Encyclica wieder in die Bibliothek zurück. Bevor er sie im
Regal einräumte, betrachtete er noch einmal das Mammut und die Affenmenschen , und dann auch, weit hinten im
Buch, den Werwolf . Theorien. Vergilbtes Pergament.
Aber alle hatten sie sich innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden zu Wort
gemeldet, und er ahnte, daß dies nun schon bald sein Alltag werden würde: sich
mit Wesen zu befassen, die, wie Naenn es ausgedrückt hatte, »herrlich und
gefahrvoll« waren. Hoffentlich gab es in Warchaim auch ein Exemplar der Encyclica . Hoffentlich machte der Werwolf aus den
Klippenwäldern nicht ausgerechnet Jagd auf entflohene Rathausschreiber.
    Als nächstes ging
Rodraeg zum Bürgermeister in dessen geräumiges und prächtiges Arbeitszimmer und
kündigte. Der Bürgermeister war erstaunt angesichts solcher Plötzlichkeit, aber
Rodraeg erklärte ihm, daß er Freunde in hohen Positionen in der Hauptstadt
hätte, die ihn in einen wichtigen Posten drängten, den abzulehnen wohl nicht klug
wäre. Das konnte der Bürgermeister gut verstehen und seufzte. Darüber hinaus
verzichtete Rodraeg auf den Lohn für die bisherigen sechzehn Tage dieses Jahres
sowie auf das Restgehalt vom letzten Jahr, das der Bürgermeister ihm noch
schuldig war, und damit brachte er die rosigen Wangen des Bürgermeisters zum
Glänzen. Ja, Rodraegs Aufgaben könne der mittlerweile gut eingearbeitete Reyren
übernehmen, bis dauerhafter Ersatz gefunden wäre. Ja, die Kostenaufstellung für
das Arisp-Fest würde Rodraeg jetzt noch fertigstellen. Außerdem war man in der
Hauptstadt schließlich nicht am anderen Ende des Kontinents, sondern lediglich
acht Tagesreisen von Kuellen entfernt, falls mal etwas sei. Jedenfalls
gratulierte der Bürgermeister und sprach gleichzeitig sein Beileid aus. Für
langjährige Dienste schenkte er Rodraeg noch einen besonders festen Händedruck
und eine Einladung ins Rathaus, sollte Rodraeg einmal wieder in der Gegend
sein.
    Das war es dann. Als
Rodraeg nach nur einer Zwölftelstunde das Bürgermeisterzimmer verließ, war er
ein freier Mann. Ein wenig beunruhigte ihn, wie leicht es ihm fiel und schon
immer gefallen war, einen mehrjährigen Lebensabschnitt abzuschließen. Er hatte nie
etwas bereut oder vermißt. Vielleicht wurde es wirklich höchste Zeit, daß er
sich endlich einmal mit Leib und Seele einer Sache verschrieb und entweder
Großartiges leistete – oder unterging.
    Er verließ das Rathaus
kurz und erkundigte sich im winzigen Handelskontor, ob es zufällig jemanden
gab, der morgen Richtung Hauptstadt aufbräche und zwei Mitreisende mitnehmen
könnte. Er hatte Glück: der Tonkrughändler Hinnis wollte am Vormittag mit einer
Lieferung zum Südufer des Delphiorsees aufbrechen. Von dort aus waren es nach
Aldava zu Fuß nur noch drei Tagesreisen. Rodraeg bedankte sich, hinterließ eine
Notiz für Hinnis, kaufte sich beim Zuckerwarenhändler noch ein Schäufelchen
süße Lakritze zum Knabbern und kehrte zum Rathaus zurück.
    In den folgenden
Stunden bis weit nach Einbruch der Dunkelheit erledigte er die Aufstellung der
städtischen Arisp-Fest-Ausgaben und vervollständigte die beachtliche Liste der
dem Rathaus gegenüber noch als Gläubiger auftretenden Händler und Zünfte.
    In den Versband der Eselchen -Wirtin schrieb er:
    Â 
    Schon
nächstes Jahr ist wieder Wahl,
    versucht
es dann doch ruhig einmal
    â€“
denn dieser hier wird immer dreister –
    mit
einem bess’ren Bürgermeister.
    Er nahm sich die
Landkarte des Kontinents, die über seinem Schreibpult an der Wand hing, rollte
sie zusammen, verabschiedete sich von Kepuk, der als einziger so spät noch
arbeitete, und verließ leise das im Dunkeln leuchtende Rathaus.
    Auf dem Platz blieb er
stehen und atmete tief den kühlen nächtlichen Wind, der vom Larnwald
herüberrauschte.
    Eigentlich sollte man
an einem solchen Abend in eine billige Schenke gehen und sich sinnlos besaufen,
dachte Rodraeg, aber er trank nicht gern, es war bereits spät, und seine
Zukunft begann morgen schon recht früh.

3

Geschenke
    Der Morgen war kühl

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