Die dunkle Schwester
Meeresoberfläche kam langsam näher.
»Unsere Schwester besitzt fürwahr eine mächtige Gabe«, murmelte Hopie ehrfürchtig.
Zwei dunkle Silhouetten glitten in einem gewaltigen, brodelnden Schaumkessel landeinwärts. Etwa zwanzig Meter vom Strand entfernt bremsten sie schwungvoll ab. Jetzt erkannte Tania die beiden glatten graublauen Buckel, die eine einzige Rückenflosse trugen.
»Das sind Buckelwale!«, rief sie aufgeregt und ergriff Edrics Hand.
Einer der Wale hob seinen langen Kopf mit den Barten aus dem Wasser und zeigte ihnen seine runzlige weiße Kehle. Der andere tauchte ab, die große fächerförmige Rückenflosse hoch in der Luft, ehe er sie ins Wasser zurückklatschen ließ und eine Schaumfontäne in die Luft jagte. Wenige Sekunden später tauchte der Wal wieder auf, sein riesiger grauer Körper war viel schöner und majestätischer als alles, was Tania jemals gesehen hatte. Der Wal sprang fast ganz aus dem Wasser, drehte sich auf die Seite und ließ sich wieder fallen, sodass der ganze Himmel voll weißer Gischt war.
Zaras Lied war jetzt zu Ende und Cordelia lief zu ihr auf die Klippe. Die Wale kamen noch näher an den Strand und reckten die Köpfe aus dem Wasser. Die Augen waren winzig im Vergleich zu den riesigen Köpfen und doch war ihr Blick erschreckend intelligent.
»Seid gegrüßt, weise Wanderer«, rief Cordelia. »Herrscher der Tiefsee, mächtige, großmütige Brüder, wir erbitten heute eine Gunst von euch.«
Tania sah Hopie an. »Meinst du, sie helfen uns?«
Hopie nickte. »Ja«, antwortete sie. »Sie werden uns helfen.«
Tania schnappte nach Luft. »Wo w – ich wusste gar nicht, dass Wale so schnell schwimmen können.«
Sie stand neben Edric im Bug des Schlangenboots und klammerte sich an die Wanten. Der Wind peitschte ihr die Gischt ins Gesicht, und die Planken unter ihren Füßen erbebten.
»Ich habe ihnen gesagt, dass es schnell gehen muss!«, rief Cordelia von ihrem Ausguck auf dem Schlangenhals der Galionsfigur herunter. »Zu Pferd hätte uns diese Reise zehn bis zwölf Tage gekostet, aber dank der hilfsbereiten Meeresbewohner in unseren Diensten können wir hoffen, die Schwarze Insel binnen drei Tagen zu erreichen!«
Cordelia hatte nicht lange gebraucht, um die Wale zu überzeugen. Und so wie die beiden Meeresriesen im Wasser tobten und Gischtfontänen in die Luft sandten, konnte man geradezu meinen, sie seien froh, etwas gegen den bösen Hexenkönig unternehmen zu können.
Es hatte seine Zeit gedauert, starke Taue aufzutreiben und aneinanderzubinden, damit sie lang genug für einen provisorischen Walharnisch waren. Als das geschehen war, hatte Cordelia ihre Überkleider abgestreift und war mit einem geschmeidigen Kopfsprung ins Wasser gehechtet, um den Männern in den Ruderbooten dabei zu helfen, die Wale anzuschirren. Die Seile wurden vorn am Schlangenboot vertäut und die Wale zogen es mühelos ins Wasser herunter.
Dann kam der Abschied. Tania fiel es schwer, sich von der fröhlichen Zara zu trennen, die ihr von allen Schwestern die liebste war und sie oft genug aufgemuntert und getröstet hatte. Traurig winkte sie den Zurückbleibenden auf den Felsenklippen zu, als die Wale die Taue straff zogen und das Boot aus der Bucht hinausschleppten.
Sie reisten jetzt schon eine ganze Weile nach Westen, hatten die bewaldete Insel Ynis-Tal umrundet, mit dem offenen Meer zu ihrer Linken. Doch inzwischen war längst kein Land mehr in Sicht und sie sausten auf der grenzenlosen blauen See nach Norden.
»Wir sind jetzt in der Damaszener-Bucht!«, rief Cordelia. »Wenn die Sonne im Zenit steht, werden wir die große Insel Chalzedonien am Horizont sehen. Jenseits davon liegt die Küste des Herzogtums Weir, dort, wo dreihundert Fuß hohe Klippen senkrecht in die trügerische See abfallen.«
»Und dann?«, fragte Tania.
»Danach kommt ein langer Fjord namens Beroald-Sund«, sagte Edric. »Das ist die Nordküste von Weir, und wenn wir der Küstenlinie ostwärts folgen, erreichen wir die Mündung des Lych und von dort die Gegend von Caer Liel. Aber wir werden die Mündung beim Galgenfels überqueren.«
»Ah, sieh an, der Galgenfels«, sagte Cordelia und kletterte von ihrem Ausguck hinunter. »Der südlichste Vorberg von Prydein. Jenseits davon liegen nur noch die Hiobs-Zunge und die Wildnis von Obervoltar und Rhoth. Und hinter Rhoth beginnt die lange schwarze Küste von Fidach Ren.« Sie wischte den feinen Sprühnebel von ihrem Gesicht. »Ich sterbe vor Hunger; diese Seeluft höhlt
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