Die dunkle Schwester
uns jetzt, wonach ihr sucht.«
»Danke!«, rief Tania zurück. »Das ist echt nett von euch! Wir suchen eine große Bernsteinkugel, in der ein Mann gefangen sitzt.«
»Habt Dank für eure Hilfe!«, fügte Cordelia hinzu. »Unverhoffte Freundlichkeiten sind die größten aller Wohltaten!«
Clorimel nickte und stieg wieder zu den anderen auf. Dann schossen die Lios Foltaigg über die Insel und verschwanden landeinwärts hinter den Klippen. Ein Knirschen wie von Kies drang an Tanias Ohr, und als sie sich umdrehte, liefen Edric und Cordelia bereits den Strand hinauf. Rasch folgte sie ihnen zu den ölig glänzenden Felsen.
Es war sehr mühsam, an dieser ersten schroffen Klippenwand hinaufzuklettern, und Tanias Arme und Beine zitterten vor Anstrengung, als sie endlich oben stand und auf Ynis Maw hinunterblickte.
»Ein finsterer Ort fürwahr«, murmelte Cordelia. »Gerade gut genug für einen Verräter.«
Messerscharfe Klippen und wild zerklüftete Täler breiteten sich vor ihnen aus, kahl und unwirtlich, mit ein paar windgepeitschten, verkümmerten Sträuchern und rauem Gras bewachsen, das zwischen dem schwarzen Geröll hervorstach. Das Gelände stieg in unregelmäßigen Terrassen zu einer Kuppel aus Felszacken an. Die Berge sahen aus wie mit einem Riesenhammer zertrümmert, das Land wie aufgerissen und von gigantischen Äxten zerfleischt.
Edric nahm Tanias Hand in die seine und sagte mit einer Stimme, die vor Grauen bebte: »Ich weiß, was der Verräter Drake dir angetan hat, was er uns allen antun wollte, aber das hie r … nein, das wünsche ich nicht einmal meinem ärgsten Feind.«
Tania wollte jetzt nicht an Gabriel Drake erinnert werde n – der Ort hier war schon schrecklich genug. Außerdem waren sie hergekommen, um eine Aufgabe zu erfüllen. »Wo sollen wir als Erstes suchen?«, fragte sie. Die ganze Zeit über hatte sie geglaubt, sie müsse die Gegenwart ihres Vaters spüren, sobald sie in Ynis Maw ware n – als eine tröstliche Wärme in der Luft. Aber hier war nichts.
»Das Bernsteingefängnis kann überall sein, hier oben im Freien oder in einem Versteck im Tal unten oder in einer Höhle«, antwortete Edric. »Wir müssen alles absuchen.«
»Dann lasst uns beginnen«, sagte Cordelia. »Bleiben wir zusammen oder sucht jeder für sich allein?«
»Lieber zusammenbleiben«, sagte Tania schnell. Ihr schauderte bei dem bloßen Gedanken, allein auf dieser Geisterinsel herumzuirren. »Das dauert zwar länger, aber es ist nicht gut, wenn wir uns trennen.«
»So sei es.« Cordelia brach sofort auf und tastete sich zwischen den Felsen hindurch.
Sie suchten ewig lange, stiegen in steile Schluchten hinab, kletterten über reißzahnscharfe Bergkämme und stolperten durch die zertrümmerten, teilweise zu Staub zermahlenen Überreste einer Felsenlandschaft. Hin und wieder tauchten ein oder zwei Lios Foltaigg am Himmel auf, aber Tania hatte längst jede Hoffnung aufgegeben, dass das fliegende Völkchen den König finden würde. Von Norden her drängten dicke Sturmwolken herein und die Welt wurde immer finsterer.
Cordelia blickte sorgenvoll zum Himmel auf. »Was werden wir tun, wenn wir den König nicht finden, solange das Tageslicht anhält?«, fragte sie, eine Angst, die Tania schon die ganze Zeit quälte. »Werden wir auf dieser verfluchten Insel nächtigen oder müssen wir aufs Festland zurückkehren? Gewiss, sie halten sich fern, doch sah ich sie durch die Felsen husche n – sie beobachten uns, folgen uns.«
Tania riss entsetzt den Kopf hoch. »Wer? Von wem sprichst du? Von wilden Tieren?«
»Nein, nicht von Tieren, es sei denn, dass Tiere in diesen Breiten auf zwei Beinen wandeln und sich in zerlumpte Kleider hüllen.«
Tanias Augen weiteten sich. »Du meinst Menschen?«
»Ja, gewis s – sofern man bei diesen elenden Kreaturen noch von Menschen sprechen kann«, erwiderte Cordelia und warf Tania einen seltsamen Blick zu. »Oder dachtest du, der Verräter Drake sei der Einzige, der an diesen Ort verbannt wurde? Oh nein, Schweste r – da sind noch andere.«
Tania überlief es kalt, und sie blickte sich vorsichtig um, ob nicht irgendwo eine irre Fratze zwischen den Felsen hervorspähte.
»Wir haben noch etliche Stunden Tageslicht vor uns«, sagte Edric. »Das können wir später entscheiden.« Ein hohes, durchdringendes Rufen wie der Schrei einer Seemöwe driftete zu ihnen herunter. Tania starrte zum grauen Himmel hinauf. Drei Lios Foltaigg schwebten in der Nähe der Küstenlinie, zwei männliche und
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