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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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er das Metronom war, das allen anderen den Takt vorgab. Er war weder Schöpfer noch Dirigent noch Interpret. Er war das Treibgut auf den Wellen, das Herbstblatt im Wind. Der Rhythmus war das Element, das ihn trug.
    Joe hatte sich auf das Schlimmste gefaßt gemacht. Er hatte Lucilles Anwalt und seine Art, sich allen anderen aufzuoktroyieren, in schlechter Erinnerung. Als er jetzt wieder aufstand und begann, sich zu produzieren, wäre er am liebsten abgehauen. Aber je länger sie spielten, desto erträglicher wurde er. Er bewegte sich einfach im Rhythmus. Oder versuchte es. Nichts Dominantes, nichts Aggressives ging von ihm aus. Wenn es stimmte, daß er sich bei seinem letzten Trip verändert hatte, dann zu seinem Vorteil.
    Joe versuchte sich auf den fliegenden Teppich zu konzentrieren. Er war froh, daß er den Bläuling nicht erwähnt hatte.
    Lucille hatte nur drei Pilze genommen. Sie wollte versuchen, einigermaßen da zu sein, wenn sie gebraucht würde. Aber jetzt, als sie sah, wie sanft Urs abhob, tat es ihr leid, daß sie ihm nicht folgen konnte. Vielleicht sollte sie noch einen oder zwei nachwerfen.
    Alfred Wenger war nicht sicher, ob sich Urs auf dem richtigen Weg befand. Laut seinen Aufzeichnungen war seine erste Erfahrung eine musikalische. Soweit stimmte es überein. Aber er schien ganz im Rhythmus der Gruppe aufzugehen und machte keine Anstalten, ihr seinen Rhythmus aufzuzwingen, wie er das laut Lucille das letzte Mal getan hatte.
    Er schaute Urs zu, wie er sich immer mehr in sich selbst verkroch. Er bewegte sich nur noch unmerklich im Takt und hatte das Gesicht in den Händen verborgen. Plötzlich breitete er die Arme aus, balancierte einen Moment wie auf dem Hochseil, ging in die Knie, suchte Halt am Boden, setzte sich, streckte sich aus und jauchzte.
    Wenger fühlte seinen Puls.
    Der Boden war unter ihm weggekippt. Urs begann zu rutschen. Immer schneller, immer schneller. Der Boden des Tipi, die Wiese, die Welt war eine Rutschbahn. Immer runter, runter, runter. Jetzt ging es hinauf. Und in die Kurve. Und in den Looping. Die Welt war eine Achterbahn. Aiiii!
    Alfred Wenger brachte Blank hinaus. Es sah aus, als hätte die Phase mit den Gleichgewichtsstörungen begonnen. Gleich würde er sich übergeben.
    Aber Blank übergab sich nicht. Er ließ sich brav hinausführen und jauchzte und lachte.
    Die Sonne hatte den Nebel aufgerissen. Der Wald hob sich dunkel gegen einen blaßblauen Himmel ab. Wenger ließ Blank los. Er ließ sich sofort ins feuchte Gras fallen, legte sich auf den Rücken und schloß die Augen.
    Die Achterbahn führte ins All. Blank war ein Meteor, der an explodierenden Sternen vorbeiraste. Sie verwandelten sich in einen farbigen Feuerregen. Weit weg sah er die Erde.
    Jemand sagte: »Du kannst den Kurs bestimmen.«
    Urs nahm Kurs auf die Erde. Sie wurde rasch groß und immer größer. Er spürte, wie er in die Erdatmosphäre eintrat und verglühte.
    Er war wieder ein gläserner Behälter. Aber diesmal füllte er sich nicht mit grellen Farben. Diesmal füllte er sich mit Licht. Hellem, klarem, sauberem Licht.
    Lucille saß im Zelt und kicherte. Joe sah so doof aus. Er saß im Schneidersitz mit verschränkten Armen auf seinem Schlafsack und kniff die Augen zu.
    Shiva sah noch blöder aus. Sie war im Lotussitz eingeschlafen und dabei nach hinten gekippt. Die Wand des Tipi hinderte sie daran, ganz umzukippen. Das Doofste war, daß sie schnarchte.
    Lucille spürte keine Wirkung der Pilze außer, daß alles so doof aussah. Sie stand auf.
    Auf der Wiese lag Urs mit ausgebreiteten Armen. Daneben kauerte der weißhaarige Psychiater und blätterte in seinen Notizen. Das sah wieder so komisch aus, daß Lucille sich ins Gras fallen ließ und loslachte. So leise sie konnte. Aber laut genug, daß sie der Psychiater hören konnte. Er sah zu ihr hin und machte eine Handbewegung, die aussah, als würde er auf einem unsichtbaren Tamburin spielen. Sie antwortete ihm mit unsichtbaren Rumbakugeln und konnte nicht mehr vor Lachen.
    Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, was er wollte. Sie holte Urs’ Schellentrommel aus dem Tipi. Er wollte Urs dazu bringen, darauf zu spielen. Aber der zeigte kein Interesse.
    Dann geschah wieder etwas Komisches. Der Psychiater schlug jetzt selbst auf die Schellentrommel, und Urs begann sich aufzurichten. Wie eine beschworene Kobra, dachte sie, und kicherte wieder los.
    Wenger stand auf und klopfte weiter. Urs erhob sich und bewegte sich im Takt. Schritt für Schritt folgte er seinem

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