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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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entsprang. Es war die gleiche Stelle, an der er einst seine ersten drei Nächte im Wald verbracht hatte.
    Er hängte das Kaninchen an den Hinterläufen am Ast einer Fichte auf, löste den Balg mit dem Messer von den Pfoten und zog das Fell über die Ohren. Er wusch das Tier sorgfältig im Bach und zerlegte es in Rücken, Brust, Leber, Herz und Keulen. Die Stücke deckte er mit Farnwedeln zu. Kopf, Balg, Pfoten und Lunge legte er in eine kleine Grube, die einen Stein als Deckel besaß. Sein Abfallzwischenlager.
    Mit dürrem Reisig entfachte er ein Feuer. Er legte Holz auf, das so trocken war, daß kaum Rauch entstand. Auf einem Grill aus Stacheldraht briet er die Stücke über der Glut. Herz und Leber aß er gleich zum Frühstück. Die anderen Stücke kamen auf einen Rost aus geschälten Zweigen, der in einem Sack aus Tüll an einer Fichte hing.
    Seit bald einem Monat lebte Urs Blank jetzt im Wald. Dabei war er am zweiten Tag nahe daran gewesen aufzugeben.
    Er war kurz vor Mitternacht auf dem Parkplatz angekommen und hatte ein wenig geschlafen. Er kannte den Gründelsee von früher und hatte auf der Karte gesehen, daß er von dort aus in zwei oder drei Tagen den wilden Tannen-Fichtenwald erreichen konnte, wo die kleine Lichtung lag. Es gab einen Weg dorthin, der zum großen Teil durch Wälder und kaum besiedeltes Gebiet führte.
    Bei der ersten Dämmerung war er aufgebrochen. Sein Rucksack enthielt alles, was er nach der Erfahrung der letzten Monate brauchte. Einen anderen Rucksack mit einem Querschnitt durch seine Sammlung von Ausrüstungsgegenständen und Survival-Schnickschnack, die er sich in den letzten Monaten hatte aufschwatzen lassen, ließ er im Wagen zurück.
    Kurz vor Mittag brach ein Unwetter los. Blank setzte sich unter eine große Fichte, deckte sich und seinen Rucksack mit einer Blache zu und wartete, bis es vorüber war. Als die Abstände zwischen Donner und Blitz immer kürzer wurden und der Himmel über den Wipfeln ständig unter Strom zu stehen schien, setzte er sich auf seine Isolationsmatte und breitete die Überlebensfolie als Faradaykäfig über sich aus. Als dann aber der Sturm loslegte, wurde die Regel, daß man bei Gewittern im Wald sicherer ist als im Freien, außer Kraft gesetzt. Von allen Seiten krachten Äste, Zweige und halbe Baumkronen herunter. Blank stand auf und preßte sich, so eng es ging, an den Stamm seiner Fichte. So verbrachte er fast zwei Stunden.
    Das Gewitter zog vorüber, aber der Sturm hielt an. Und mit ihm der sintflutartige Regen. Blank machte sich auf die Suche nach einem Unterschlupf.
    Alles, was er vor Einbruch der Dunkelheit fand, waren zwei Felsen, die so standen, daß ihr Zwischenraum etwas Schutz vor dem Wind bot. Aber der Platz war zu schmal und zu uneben für sein kleines Zelt. Er mußte die Nacht halb sitzend in seinem Biwaksack verbringen. Schlaf fand er nur in Abständen von zehn Minuten.
    Lange vor Tagesanbruch fiel ihm ein Gurgeln und Plätschern auf, das er vorher nicht gehört hatte. Unter ihm im Felsspalt war ein Rinnsal entstanden und zu einem kleinen Bach angeschwollen. Sein Rucksack stand bereits im Wasser. Blank brachte sich und seine Sachen unter einer Tanne in Sicherheit und wartete fröstelnd, bis es hell wurde.
    Bei Tagesanbruch aß er eine Dose Sardinen, die eigentlich als Notration vorgesehen war. An Feuer war nicht zu denken. Der Wald war durchtränkt vom Regen, den der Wind in unberechenbaren Böen in alle Richtungen trieb.
    Blank brach auf. Das Gehen im aufgeweichten Boden zwang ihn immer öfter zu Pausen, während denen er im Schutze des Ponchos die Karte studierte. Bald mußte er sich eingestehen, daß er die Orientierung verloren hatte. Er war schon lange nicht mehr an einem Punkt vorbeigekommen, den er auf der Karte hatte wiederfinden können. Und an Stellen, wo sich der Wald auftat, versperrten die tiefhängenden Wolken die Sicht auf Geländepunkte, mit deren Hilfe er seinen Standort hätte bestimmen können.
    Es blieb ihm nichts übrig, als in der Richtung weiterzugehen, die ihm der Kompaß wies. Er war müde von der schlaflosen Nacht, er fror, vom Druck des Schulterriemens seines Rucksacks schlief sein rechter Arm ein, die Nässe war durch seine teuren, garantiert wasserdichten Stiefel gedrungen.
    Er war bereit, das Abenteuer abzubrechen. Aber dazu hätte er wissen müssen, wo er war.
    So ging er im Dauerregen weiter. In seinem Poncho, den er über sich und den Rucksack geworfen hatte, sah er aus wie ein buckliger

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