Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
seine
Angehörigen sagen? Er muss ja zumindest eine Nichte gehabt haben, falls die
Anrede ›Onkel Heinrich‹ kein Überbleibsel aus frühen Kindertagen ist.«
Wieder blickte die Schwester in
die vor ihr liegende Liste. »Heinrich Gruber war ein sehr schweigsamer, in sich
gekehrter Mensch. Er hatte einen großen Verlust erlitten und haderte nicht nur
mit Gott und der Welt, sondern auch mit sich selbst. Das merkte man ganz
deutlich, aber wenn unsere Bewohner nicht über ihre Sorgen und Nöte sprechen
möchten, dann respektieren wir ihren Wunsch. Ein Mal erwähnte er allerdings,
dass alle, die ihm etwas bedeutet haben, gestorben sind. Deswegen steht in
meinen Unterlagen nur der Name und die Adresse von einer Schwägerin in
Neumarkt.«
»Und wie war Herr Gruber sonst
so? Ich meine, wie kam er mit den anderen Obdachlosen zurecht?«
»Wie schon gesagt, er war sehr ruhig
und verschlossen. Ein Einzelgänger, aber das sind sie eigentlich alle. Er war
immer höflich und wurde auch im Suff nicht aggressiv. Zum Beispiel ist er nie
auf einen seiner Zimmergenossen losgegangen, falls Sie das meinen. Die anderen
Bewohner haben ihn sehr geschätzt, das zeigt auch schon der Name, den sie ihm
gegeben haben: Professor. So wird hier keiner ohne Grund genannt, auch wenn er
einen offiziellen Titel hat.«
»Er hatte also keine Neider? Ist
nie bedroht worden?«
Schwester Felicitas schüttelte den
Kopf. »Davon ist mir nichts zu Ohren gekommen. Und ich höre viel«, sagte sie
mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln.
Als Hackenholt und Wünnenberg
schon dabei waren, sich zu verabschieden, hielt sie die Schwester noch einmal
kurz zurück.
»Wurde der Leichnam denn schon
identifiziert? Ich meine, falls Sie jemanden dafür brauchen«, sie räusperte
sich verlegen, »ich würde das natürlich übernehmen. So könnte ich mich auch
noch persönlich von ihm verabschieden.«
Hackenholt dankte ihr und
versprach, dass ein Kollege sie anrufen und einen Termin mit ihr vereinbaren
werde.
Schon in der kurzen
Besprechung, die sie am Nachmittag abhielten, konnte Hackenholt berichten, dass
er Grubers Schwägerin erreicht und mit ihr ein Treffen für den kommenden
Vormittag in Neumarkt vereinbart hatte. Anschließend diskutierten die Beamten,
ob sie Heinrich Grubers Bild in der Zeitung veröffentlichen lassen sollten. Sie
mussten unbedingt Personen finden, die sich genauer als Schorsch daran erinnern
konnten, wann und wo sie den Obdachlosen zuletzt gesehen hatten.
»Ich denke, wir haben nichts zu
verlieren«, stimmte Stellfeldt Hackenholts Vorschlag zu, das Foto noch am
selben Tag über die Pressestelle an die Medien herauszugeben. »Je früher es in
den Zeitungen erscheint, desto besser. Schließlich liegt die Tat schon einige
Tage zurück. Außerdem fangen in zwei Wochen die Sommerferien an, dann macht
sich keiner mehr Gedanken, ob er einen Obdachlosen gesehen hat oder nicht. Du
solltest es allerdings erst noch mit dem Staatsanwalt abklären, aber warum
sollte er nicht zustimmen?«
»Wie schaut es denn allgemein
mit den Anlaufstellen für Obdachlose aus?«, fragte Wünnenberg, während er ein
paar Tropfen Milch in seinen Kaffee rührte. »Können wir dort nicht auch einen
Aufruf aushängen? Die Zeitungsartikel werden nur wenige Bewohner lesen.
Außerdem haben wir bisher nur mit einer Handvoll Mitarbeitern persönlich
gesprochen.«
»Ralph hat recht. Schwarze
Bretter gibt es in allen Einrichtungen«, informierte Stellfeldt das Team. »Die
Möglichkeit sollten wir unbedingt nutzen. Und zwar in wirklich allen
Unterkünften, auch in denen, die sich auf Drogenabhängige spezialisiert haben.
Die Menschen auf der Straße kennen sich, egal ob sie drogen- oder
alkoholabhängig sind.«
Hackenholt nickte und machte
sich eine weitere Notiz auf seinem Schreibblock.
Sophie saß auf der Terrasse,
umgeben von einem Sammelsurium bunter Flyer, Heftchen, Stifte und Textmarker.
Zuoberst lag ihr Terminkalender. Hackenholt begrüßte sie mit einem Kuss auf die
Augenbraue.
»Bist du am Arbeiten?«
Sophie schüttelte den Kopf. Bei
den sich vor ihr auftürmenden Faltblättern handelte es sich ausnahmsweise nicht
um Unterlagen, die sie als freiberufliche Übersetzerin in eine andere Sprache
bringen musste, vielmehr waren es alle möglichen Programmhefte der mannigfachen
Veranstaltungen, welche die Metropolregion ihren Einwohnern und Besuchern in
den Sommermonaten bot.
»Ich versuche mir gerade einen
Überblick über die vielen Konzerte, Lesungen, Theatervorstellungen
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