Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
Kaliber. Dabei hat
die Mutter gestern am Telefon noch normal gesprochen.«
Wünnenberg grinste. »Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich alles
verstehe, aber mit Händen und Füßen wird es schon gehen.«
Wie sich schnell herausstellte,
waren ihre Befürchtungen unbegründet. Die Tochter setzte sich nicht zu ihnen,
und die Mutter, Margot Kreuzeder, sprach auch heute fast perfektes Hochdeutsch.
Sie war sichtlich schockiert, als Hackenholt ihr eröffnete, ihr Schwager sei
Opfer eines Verbrechens geworden.
»Es waren also nicht sein
Lebenswandel und der Alkohol?«
Hackenholt schüttelte den Kopf.
Er hätte ihr gerne die Einzelheiten erspart, aber sie bestand auf einer
Schilderung des Geschehens, zumindest soweit die Beamten es bisher
rekonstruiert hatten. So schnell wie möglich schwenkte Hackenholt jedoch auf
die Fragen um, wegen derer sie eigentlich nach Neumarkt gekommen waren.
»Können Sie uns etwas über Ihren
Schwager erzählen, bevor er obdachlos wurde? Wo hat er gelebt? Was war er für
ein Mensch?«
Frau Kreuzeder stand auf und
nahm ein Fotoalbum von der Anrichte. Sie zeigte den Ermittlern Bilder von ihrer
älteren Schwester Evelyn und Heinrich Gruber. Beide hatten sich Anfang der
siebziger Jahre vermählt.
»Evelyn war erst knapp zwanzig
Jahre alt, als sie heirateten, weil sie schwanger wurde. Allerdings wurde es
dann ein Sternenkind.« Als sie Hackenholts verwirrten Blick sah, erklärte sie
den Begriff: »Eine Totgeburt. Doch die schweißte die beiden nur umso stärker
zusammen. Evelyn vergötterte Heinrich. Ende der siebziger Jahre wurde sie noch
einmal schwanger, und Sonja kam gesund zur Welt. Alle waren glücklich.« Margot
Kreuzeder schluckte schwer. »Im Sommer 2004 klagte Sonja dann immer wieder über
Kopfschmerzen. Zwei Tage bevor sie einen Termin beim Neurologen hatte, brach
sie am Frühstückstisch zusammen. Sie wurde sofort in die Universitätsklinik
nach Erlangen gebracht, aber es war schon zu spät. Ihr Hirn hatte bereits
aufgehört zu arbeiten. Wie man bei der Obduktion feststellte, hatte sich ein
Tumor direkt am Hirnstamm gebildet. Meine Schwester litt sehr unter dem Tod
ihrer Tochter, trotzdem schafften Heinrich und sie es erneut, sich gegenseitig
über den Verlust hinwegzutrösten. In dieser Zeit waren sie oft bei uns. Ich
lebte damals mit meiner Tochter und einem Untermieter in einer großen Wohnung
direkt im Stadtkern von Neumarkt.« Wieder machte Frau Kreuzeder eine Pause. Die
Finger ihrer linken Hand spielten nervös mit einem Ring an ihrer rechten. »Fast
genau ein Jahr später wurde bei Evelyn Gebärmutterkrebs festgestellt. Sie wurde
bestrahlt und operiert, aber es half nichts. Der Krebs war schon zu weit
fortgeschritten. Heinrich ging nicht mehr in seine Praxis, sondern pflegte
seine Frau. Bis zum Schluss. Als Evelyn im Spätherbst 2005 starb, brach für ihn
die Welt zusammen. Seine Praxis betrat er nie wieder. Mit seiner Familie hatte
er auch den Glauben an die Medizin verloren. Wie schlimm es um ihn stand,
merkte ich erst, als er das Haus aufgeben musste, da er die Hypothekenzinsen
nicht mehr bezahlen konnte. Von einem Tag auf den anderen stand er auf der Straße.
Erst später erfuhr ich von ehemaligen Nachbarn, dass er mit Evelyns Tod zu
trinken angefangen hatte. Ich bot ihm an, bei uns unterzukommen, aber er lehnte
ab. Sein Leben auf der Straße betrachtete er als gerechte Strafe dafür, dass er
weder seine Frau noch seine Tochter hatte retten können.« Bei den letzten
Sätzen waren Frau Kreuzeder Tränen in die Augen getreten. Sie wandte sich ab
und holte ein Taschentuch aus ihrer Strickjacke. Nachdem sie sich geschnäuzt
hatte, fuhr sie fort. »Heinrich war ein herzensguter Mensch. Ein solches Ende
hat er nicht verdient.«
Hackenholt räusperte sich. »Wo
haben Ihre Schwester und Ihr Schwager zuletzt gelebt?«
»In Heroldsbach. Das ist in der
Nähe von Forchheim. Meine Schwester und ich sind in Höchstadt an der Aisch
aufgewachsen. Heinrich kam aus Nürnberg, weshalb er nach Sonjas und Evelyns Tod
auch dorthin zurückgekehrt ist. Außerdem sagte er, als Penner würde es sich in
der Großstadt besser leben lassen als auf dem Land.« Ihre Stimme brach. Schnell
vergrub sie ihr Gesicht in dem Taschentuch. Nach ein paar Minuten hatte sie
sich wieder gefasst. In ruhigerem Tonfall fragte sie: »Wie wird das mit der
Beerdigung gehandhabt? Ich möchte, dass er anständig begraben wird.«
»Am besten wäre es, Sie rufen
bei der städtischen Bestattungsbehörde in Nürnberg an,
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