Die dunkle Seite des Sommers (German Edition)
oder?«
Der Obdachlose schüttelte den
Kopf.
»Hat er Ihnen manchmal etwas von
seiner Familie erzählt?«
Wieder kratzte sich Schorsch am
Kopf, bevor er seinen Hut zurechtrückte. »Über so etwas reden wir nicht. Da hat
jeder sein eigenes Päckchen zu tragen.« Er wischte sich über die Augen.
»Wir haben im Wald in der Nähe
vom Tiergarten einen Toten gefunden, von dem wir glauben, dass es sich bei ihm
um den Professor handelt«, sagte Hackenholt mit leiser Stimme. »Falls er
Angehörige hat, müssen wir sie verständigen. Aber im Moment wissen wir noch gar
nichts über ihn.«
Der Obdachlose starrte auf den
Boden und nickte ein paarmal kaum merklich. »Wenn Ihnen jemand weiterhelfen
kann, dann Schwester Felicitas im ›Domus‹. Sie hat ihn im Winter gepflegt, als
er so krank war.«
Die Ordensschwester war eine
kleine, schlanke Frau, weit in den Sechzigern. Ihr schwarz-weißes Habit und das
silberne Kreuz, das sie an einer Kette um den Hals trug, verliehen ihr
klerikale Würde. Sie führte die Beamten in ein zweckmäßig eingerichtetes
Beratungszimmer im Erdgeschoss.
»Schwester Felicitas, wir haben
am Samstag im Lorenzer Reichswald einen Toten gefunden, von dem wir annehmen,
dass es Herr Dr. Heinrich Gruber ist. Ein Obdachloser namens Schorsch sagte
uns, dass Sie den Professor kennen und ihn im letzten Winter gepflegt haben«,
kam Hackenholt zur Sache.
Für einen Moment schloss die
Schwester die Augen. Hackenholt hatte den Eindruck, dass sie im Stillen ein
kurzes Gebet sprach. Als sie den Blick wieder auf ihn richtete, nickte sie ihm
kurz zu. »Das stimmt. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Hackenholt zog eine der
Fotografien, die in der Rechtsmedizin gemacht worden waren, aus seinem
Aktenkoffer. »Ist er das?«
Die Schwester betrachtete lange
das Foto, bevor sie nickte. »Allerdings ist es kein besonders schönes Bild, das
Sie da von Herrn Dr. Gruber haben.«
Ein wenig steif in den Gliedern
stand sie auf und ging zu einer Glasvitrine, in der mehrere Fotoalben standen.
Sie nahm eines davon heraus, trug es zurück zum Schreibtisch, blätterte einen
Augenblick darin herum, dann drehte sie es so, dass Hackenholt und Wünnenberg
die Fotos sehen konnten. Sie deutete auf ein Bild rechts unten auf der Seite.
Es zeigte einen Mann, der direkt in die Kamera blickte, das Gesicht zu einem
freundlichen Lächeln verzogen, was man jedoch nur an den Fältchen um seine
Augen erkennen konnte. Der Mund wie auch die meisten anderen Gesichtszüge
wurden von einem sehr langen grauen Vollbart verdeckt. Das ebenfalls lange
graue Haar schaute unter einer schwarzen Baseballkappe hervor und hing ihm
strähnig über die Ohren. Er trug ein kariertes Holzfällerhemd, in dessen
ausgebeulter Brusttasche eine Packung Tabak steckte. Das Hemd hatte er leger
bis zur Brust aufgeknöpft, die Hemdsärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt.
»Das war im letzten Winter, kurz
nach Weihnachten.«
»Dürfen wir es uns ausleihen? Es
wäre einfacher, wenn wir dieses Bild anstelle von unserem herumzeigen könnten.
Sie bekommen es selbstverständlich zurück.«
Die Ordensschwester nickte
ergeben. »Es ist auch noch Post für Herrn Dr. Gruber hier, die er in den
letzten Wochen nicht abgeholt hat. Möchten Sie die auch mitnehmen?«
Hackenholt sah sie erstaunt an.
»Obdachlose erhalten genauso
Post wie Sie und ich«, sagte sie erklärend. »Manche lassen sie sich zu
irgendwelchen Angehörigen schicken, manche postlagernd, und wieder andere geben
unsere Adresse an.«
Als sie diesmal aufstand, ging
sie zu einem Aktenschrank, dem sie eine Handvoll Kuverts entnahm. Langsam
blätterte sie den kleinen Stapel durch. Für den Professor waren eine Postkarte
und ein Brief gekommen. Der Text auf der Karte begann mit »Lieber Onkel
Heinrich« und war mit »Viele Grüße, Sandra« unterzeichnet. Soweit Hackenholt
den Poststempel entziffern konnte, war die Ansichtskarte Anfang Juni in Italien
aufgegeben worden.
»Wann war Herr Gruber denn zum
letzten Mal hier?«, fragte der Hauptkommissar neugierig. Auch wenn die
Postlaufzeiten in Italien unberechenbaren Schwankungen unterlagen und nicht
annähernd so kurz waren wie die in Deutschland, musste die Karte schon geraume
Zeit auf Heinrich Gruber gewartet haben.
Schwester Felicitas schaute in
ihrer Liste nach. »Am 28. Mai hat er zum letzten Mal hier übernachtet. Aber da
war ich bei meiner Schwester in Heilbronn. Persönlich habe ich ihn zum letzten
Mal Anfang Mai gesehen.«
»Können Sie uns etwas über
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