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Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller

Titel: Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Das ist auch der Grund, warum ich das Kind nicht mit dem Bade ausschütten will. Ich muss mögliche Antworten finden, ehe ich mit ihm rede.«
    Gegen 22.00 Uhr fuhr Olivier Émery mit der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern über die rechte Spur des Boulevard Périphérique in Paris. Der Verkehr lief flüssig, und die heruntergelassenen Scheiben des Autos machten die Hitze erträglich. Olivier Émery rauchte eine Zigarette, die er in der linken Hand hielt. Ab und zu streifte er die Asche ab, indem er seinen Arm aus dem Fenster hängen ließ.
    Er blinkte rechts und nahm die Ausfahrt Porte de la Chapelle, Paris Nord, 18. Arrondissement. Dann suchte er sich ein kleines Sträßchen und parkte seinen Wagen in der Nähe des Boulevard Périphérique. Er zog die Handbremse an, verriegelte das Lenkrad mit einer Kralle, verschloss die Türen und machte sich auf einen halbstündigen Fußmarsch.
    Um 23.15 Uhr betrat er die Eingangshalle eines Wohnhochhauses und steuerte ohne zu zögern die Aufzüge an. Mit dem Zeigefinger, den er in ein Papiertaschentuch gewickelt hatte, um nicht in direkten Kontakt mit dem Tastenfeld zu kommen, tippte er auf den Knopf für die zehnte Etage. Oben angekommen zog er einen flachen Schlüssel aus der Tasche, ging den Flur entlang und öffnete die letzte Tür auf der rechten Seite. Er schloss sie hinter sich, indem er sich anlehnte. Das Taschentuch warf er in einen Papierkorb. Hier brauchte er es nicht.
    Die Wohnung war klein und peinlich sauber. Auf den Möbeln lagen Schonbezüge, die sie vor Staub schützten. Er konnte sich bewegen, ohne Gefahr zu laufen, sich in einem Spiegel zu sehen. Das galt auch für das Bad. Émery leerte den Inhalt seines Rucksacks auf das Sofa. Nur die letzten fünf Hefte interessierten ihn. Er ordnete sie chronologisch und stellte sie neben die vierundzwanzig anderen in eine Reihe. Alles, was er seit fast dreißig Jahren geschrieben hatte, stand dort im Regal. Die Hefte variierten in Form und Farbe, doch konnte man feststellen, dass sich Émery in den letzten fünfzehn Jahren um mehr Einheitlichkeit bemüht hatte. Manche Hefte hatten Spiralrücken, andere waren geheftet. Die meisten hatte er mit Klebeband reparieren müssen, nachdem er sie im Rucksack befördert hatte. Neben den Heften stand ein einziges, sehr zerlesenes Buch. Es handelte sich um einen Sammelband der Briefe von Seneca. Das Buch war Hunderte Male gelesen worden; es hatte einem alten Mann gehört – dem einzigen Menschen, der je so etwas wie Mitgefühl für Émery an den Tag gelegt hatte. Émery hatte sich redlich bemüht, sich mit dem Text zu beschäftigen. Dabei war ihm aufgefallen, dass einige Sätze eine Art Echo dessen darstellten, was er selbst durchlebte. Der alte Mann war ihm einige Wochen lang immer wieder auf seinen Streifzügen begegnet. Émery freute sich, sein Buch wiederzusehen.
    Die ganze Nacht hindurch beschäftigte er sich mit seinen Heften, die er aufs Geratewohl aus dem Regal nahm, und fühlte sich unendlich wohl dabei. Gegen sechs Uhr morgens schlief er mit dem Vorsatz ein, so spät wie möglich aufzuwachen.

28
    D ONNERSTAG , 21. A UGUST 2003
    Der diensthabende Beamte in der Polizeiwache des 9. Arrondissements las die Berichte der Einsätze der vergangenen Nacht. Meist tat er das gern, umso mehr, als sich immer etwas fand, dem er näher nachgehen konnte. Nichts Großartiges – aber manchmal brauchte es nur ein wenig Aufmerksamkeit, um Taschendiebstähle in großen Kaufhäusern und kleine Drogendeals auf der Straße aufklären zu können. Jetzt allerdings, da der August sich dem Ende zuneigte, fand sich außer den vielen durch die Hitzewelle ausgelösten Todesfällen nichts Aufregendes in den Berichten. Ungeduldig sehnte er den September herbei. Nach einem Jahr in der Hektik von Paris würde ihm der Urlaub in seinen geliebten, ruhigen Pyrenäen sicher gut tun.
    Eine junge Beamtin auf Probe drückte sich zögerlich vor seiner offenen Bürotür herum. Er winkte sie herein.
    »Vor einigen Tagen war ich mit einem Kollegen bei einem Mann, dessen Nachbarn sich wegen Ruhestörung beschwert hatten«, berichtete sie. »Eigentlich ist die Sache erledigt, aber es gibt da noch etwas, was mich stört. Der Mann, den wir aufgesucht haben, war ein Kollege von uns.«
    »Und wo liegt das Problem?«
    »Ich bin der Meinung, dass er schizophren ist. Sollte das tatsächlich der Fall sein, hat er in unserem Beruf nichts verloren.«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Seine Wohnung

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