Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
um sich nicht im Spiegel zu sehen. Das Haus und vor allem sein Zimmer waren voller unangenehmer Erinnerungen. Er stand vor seinem Bett und sah sich wieder als Kind, wie er steif und mit neben dem Körper längs ausgestreckten Armen dalag, nachdem seine Mutter sein Gesicht mit dem Betttuch bedeckt hatte. Erneut hörte er die Geräusche und Seufzer, die ihn bis zum Erbrechen anwiderten, wenn seine Mutter wieder einmal einen Mann mit nach Hause gebracht hatte.
Olivier Émery brachte es nicht fertig, sich in sein Bett zu legen. Den Rücken an ein Kissen gelehnt blieb er sitzen und dachte an all die Jahre, die er umhergeirrt war, seit er dieses Haus verlassen hatte. Doch irgendwann war Licht in das Dunkel gedrungen, und er war wiedergeboren.
Gegen drei Uhr morgens stoppte er sein Nasenbluten mit Fetzen eines Papiertaschentuchs. Der Anfall nahte langsam und hinterhältig, um ihn niederzuwerfen, ohne dass er es bemerkte. Am Rand einer Ohnmacht stand er mühsam auf, griff in seinem Rucksack nach Aspirin und Tegretol, ohne die Tabletten abzuzählen, und taumelte ins Bad. Mit den Pillen im Mund trank er mindestens einen Liter Wasser direkt aus der Leitung. Als er sich wieder aufrichtete, wischte er sich das Gesicht mit dem Ärmel ab und blickte dabei versehentlich in den Spiegel.
Wer ist der Kerl da? , fragte er sich unwillkürlich. Als er nach zwei oder drei Minuten endlich begriff, dass er es selbst sein musste, machten sich Angst und Hoffnungslosigkeit in ihm breit. Apathisch tastete er sich in sein Zimmer zurück, ohne auf den Zuruf seiner Mutter zu achten, die sich Sorgen um seine Gesundheit machte. Vor dem Bett gaben seine Knie nach, und er krümmte sich vor Schmerz.
»Du solltest beim Frühstück nicht so viel rauchen. Ich habe Kopfschmerzen, und mir ist schlecht.«
Odile Brial drückte die schwarze, filterlose Zigarette, die sie eben erst an einer anderen angezündet hatte, im Aschenbecher aus, in dem schon ein Dutzend Kippen lagen. Ein tief sitzender Raucherhusten schüttelte sie, und sie trank einen Schluck Kaffee, um das Brennen in ihrer Kehle zu lindern.
»Außerdem trinkst du immer noch viel zu viel, und die Wohnung ist furchtbar versifft«, fuhr Émery verbittert fort.
Mit dem Kopf wies er auf die Ansammlung von Wein-, Bier- und Schnapsflaschen und den Berg schmutzigen Geschirrs, der sich auf der Spüle stapelte.
Odile Brial überhörte die Kritik ihres Sohnes.
»Brauchst du noch etwas anderes als Brot und Butter, Jean-Pierre?«, erkundigte sie sich.
»Ich hätte lieber hartgekochte Eier.«
Jean-Pierre. Schon lange hatte ihn niemand mehr bei seinem Vornamen genannt. Jean-Pierre – das war jemand anderes in einer anderen Umgebung.
»Ich habe keine, aber ich gehe gleich einkaufen. Soll ich dir irgendetwas mitbringen?«
»Nicht nötig. Ich verschwinde wieder.«
»Heute?«
»Ich denke schon. Übrigens, gab es hier in den letzten Tagen irgendetwas Besonderes?«
»Aber du weißt doch, dass es hier von Anfang an drunter und drüber ging.«
»Ich rede nicht von der Vergangenheit – ich meine jetzt. Hast du um das Haus herum oder im Dorf etwas bemerkt?«
Odile Brial blickte ihrem Sohn tief in die Augen.
»Im Dorf weiß ich von nichts – je seltener ich mich dort blicken lasse, desto besser geht es mir. Die blöden alten Mistbauern schauen mich nach wie vor schief an. Am Sonntag ist ein Auto ein paar Mal langsam am Haus vorübergefahren. Ich saß auf dem Mäuerchen, rauchte und wunderte mich, dass der Wagen gleich mehrmals vorbeikam.«
»Was für ein Auto war es?«
»Eine helle Farbe. Von Marken habe ich keine Ahnung. Aber laut Nummernschild kam es aus Paris.«
»War das alles?«
Odile Brial dachte nach.
»Ich glaube, der Fahrer kam anschließend noch einmal zu Fuß vorbei. Ein ziemlich großer Mann.«
»Was für ein Typ? Sah er aus wie ein Bulle?«
Odile Brial seufzte entnervt.
»Hast du etwa wieder Dummheiten gemacht?«
»Ich habe gar nichts gemacht. Antworte.«
Sie spürte die mühsam verhaltene Aggressivität ihres Sohnes. Ihr Blick glitt ins Leere. Zwanzig Sekunden lang senkte sie den Kopf, ehe sie mit ihrer rauen Stimme antwortete.
»Er war groß, schlank, hatte schwarzes, kurzgeschnittenes Haar und ein eckiges, markantes Gesicht. Und er sah überhaupt nicht wie ein Bulle aus. Eher sehr traurig. Er trug eine dunkle Hose und ein weißes Hemd mit langen Ärmeln. Und das bei der Hitze!«
»Der Seminarist!«, rief Émery aus.
»Was erzählst du da? Wer ist ein Seminarist? Kam der Kerl
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