Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Mistrals Frau wusste nichts von dem Heft. Er fragte sich, ob sie sich dafür interessieren würde, verneinte diese Frage jedoch und räumte das Heft wieder fort. Schließlich machte er es sich in einem Sessel gemütlich und ließ das Nachtprogramm des Fernsehens an sich vorbeirauschen. Um sieben Uhr bereitete er das Frühstück vor und wartete auf Clara.
29
F REITAG , 22. A UGUST 2003
Olivier Émery dachte nach. Sein Gehalt würde in etwa acht Tagen kommen. Von den hundert Euro, die er bei seiner Mutter aus der Dose genommen hatte, waren noch fünfzehn übrig. Sein Bankkonto zeigte lediglich in den ersten fünf Tagen eines Monats schwarze Zahlen, anschließend ging es steil bergab. Am dritten Werktag eines jeden Monats holte Émery sein Gehalt bar bei der Bank ab, wobei er jedes Mal einen anderen Schalter benutzte. Er besaß weder eine Kontokarte noch ein Scheckheft, um keinesfalls Spuren zu hinterlassen. Die Miete für zwei Wohnungen, die er nun schon seit mehreren Monaten bezahlte, hatte seinen finanziellen Rahmen schnell gesprengt. Er vegetierte vor sich hin. Sein einziges Vergnügen war das Bier, das er literweise in sich hineinschüttete.
Émery stand vor einem Dilemma: Auf der einen Seite wollte er gern seine Prämie abholen, auf der anderen Seite musste er damit rechnen, dass die Polizei ihm auflauerte. Aber mit den fünfzehn Euro kam er nicht weiter, umso weniger, als er unbedingt seine Medikamente brauchte. Nach einigen Überlegungen beschloss er, in die Nähe seiner Dienststelle zu fahren, sein Kommen telefonisch anzukündigen und dann die Umgebung zu beobachten.
Émery nahm die Metro. Er hielt es für sinnvoller, nicht den Wagen zu benutzen, dessen Tank voll war. Wenn er fliehen musste, konnte er damit mindestens sechshundert Kilometern zurücklegen.
Am späten Vormittag machte er die Runde um den Häuserblock, wo sich seine Dienststelle befand. Aufmerksam beobachtete er, wer kam und wer ging und woher die Autos stammten, die er nicht kannte. Er schaltete sein Handy ein. Niemand kannte seine Nummer. Er hatte kein Abo, sondern eine Prepaid-Karte und achtete sorgfältig darauf, seine Nummer bei jedem Anruf zu unterdrücken. Natürlich wirkten diese Vorsichtsmaßnahmen nicht uneingeschränkt, doch sie konnten eine Identifizierung der Nummer verzögern.
»Hallo, hier ist Olivier Émery. Ist der Chef da?«
Während er wartete, blickte er nach allen Seiten, um festzustellen, ob sein Anruf irgendwelche Reaktionen in der Umgebung auslöste. Doch nichts dergleichen geschah.
»Olivier? Geht es dir wieder besser?«
»Ich bin schon fast wieder der Alte.«
»Rufst du wegen der Sonderzahlung an?«
»Na ja, Sie hatten am Montag davon gesprochen, und da habe ich auf Verdacht einmal angerufen.«
»Kein Problem. Komm vorbei – entweder heute noch oder am Montag.«
»Wäre es in Ordnung, wenn ich so gegen 18.00 Uhr bei euch wäre?«
»Klar, im Sekretariat ist dann bestimmt noch jemand.«
Émery schaltete sein Handy aus und stürmte eine Viertelstunde später ins Büro. Er schüttelte ein paar Kollegen die Hand und machte sich mit wild klopfendem Herzen auf den Weg ins Sekretariat. Die Gefahr konnte überall lauern. Er hielt die rechte Hand am Hals, als lockere er sich den Kragen, doch sein Daumen konnte das Rasiermesser im Bruchteil einer Sekunde hervorschnellen lassen. Die Sekretärin nahm an, er müsse es extrem eilig haben. Hastig steckte er den Umschlag ein, quittierte den Empfang und wandte sich sofort wieder zum Gehen.
Seine Kollegen hielten ihn an.
»Wie wäre es mit einem Bierchen? Du hast doch jetzt Geld in der Tasche.« Émery antwortete, ohne stehen zu bleiben. »Keine Zeit, Leute. Am Montag gern. Ciao!«
Fast im Laufschritt verließ er das Büro endgültig. Erst zehn Minuten später riss er den Umschlag auf und zählte vierhundert Euro. Damit konnte er bis zum nächsten Zahltag durchhalten.
Mistral hockte auf der Schreibtischkante, hielt einen Becher Kaffee in der Hand und hörte Calderone aufmerksam zu. Paul Dalmate hatte sich düster und schweigsam wie immer im Hintergrund in einen Sessel vergraben.
»Es macht keinen Sinn, heute in dieses Dorf zu fahren. Von den etwa zehn Leuten, die die Dimitrova interviewt hat, ist nur ein Einziger da. Alle anderen sind entweder im Urlaub oder Gott weiß wo unterwegs. Was Odile Brial angeht, so habe ich sie nicht näher überprüft, um sie nicht unter Druck zu setzen. Der Lehrer hat mir gesagt, sie sei zu Hause. Inzwischen kann ich mir ungefähr
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