Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
der Mut, darüber zu reden. Wider besseres Wissen redete ich mir ein, dass niemand etwas zu erfahren brauchte. Das Schlimmste war für mich, zuhören zu müssen, wie sie sich quälte und wie der Mörder mit ihr sprach. Das ist alles. Eventuelle Strafmaßnahmen akzeptiere ich natürlich.«
»Warum sind Sie in Odile Brials Dorf gefahren?«
Paul Dalmate sprach mit ruhiger Stimme und unbewegtem Gesicht, als handele es sich um Banalitäten.
»Weil Lora dort recherchiert hatte. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihre Gründe haben musste, wenn sie in diesem Dorf nach etwas forschte. Ich wollte wissen, was es war.«
»Aber warum haben Sie uns keinen reinen Wein eingeschenkt? Ihre Initiative war doch durchaus von Interesse!«
»Ich brachte es nicht über mich, von Lora zu sprechen.«
»Okay. Was haben Sie bei Ihrem Besuch herausgefunden?«
»Nichts Besonderes. Es handelt sich um ein kleines Dorf abseits der großen Verkehrsadern. Eine in sich abgeschlossene Welt. Ältere Leute sitzen auf Bänken unter Platanen, junge Leute langweilen sich und knattern auf ihren Mopeds durch die Gegend, und die Männer treffen sich in der einzigen Kneipe des Ortes. Odile Brial lehnte an der Mauer ihres Gartens und rauchte.«
»Was für eine Art Mensch ist sie?«
»Eine Frau in den Sechzigern, die älter wirkt, weil sie sehr schlampig ist. Ihr Gesicht sieht aus, als wäre sie Alkoholikerin ...«
»Haben Sie in der Nähe Autos bemerkt, die woanders zugelassen waren?«
»Nein.«
Mistral setzte sich an seinen Schreibtisch und spielte mit seinem Füllfederhalter. Als er sprach, klang seine Stimme sehr gefasst.
»Dalmate, von welchem Planeten kommen Sie?«
»Ich verstehe Ihre Frage nicht.«
»Dabei ist es ganz einfach. Es gibt Polizisten, die morgens aufstehen, ihre Arbeit tun und sich abends wieder zu Bett legen. Nutten gehen auf den Strich, Dealer dealen und Drogenabhängige sterben. So ist das Leben! Öffnen Sie die Augen für unsere Welt, Dalmate, und lassen Sie Ihre Gefühle aus dem Spiel. Ihr früherer Chef beim Nachrichtendienst hat mir gesagt, dass Sie ein prima Kerl sind, und das glaube ich ihm unbesehen. Konzentrieren Sie sich jetzt auf Ihre Arbeit als Kriminalbeamter. Und wenn Sie einmal nicht weiterwissen, reden Sie mit Calderone. Und jetzt ab an die Arbeit!«
Als Mistral und Calderone allein waren, sprachen sie lange über die menschliche Seele, hochherzige Gefühle und irrationale Verhaltensweisen, zu denen man manchmal durch äußere Umstände verleitet wurde. Zum Schluss stellte Calderone eine unbequeme Frage.
»Ganz offensichtlich steht die Dimitrova im Zentrum dieser Geschichte um Brial. Es ging um sie. Aber warum wurden die Norman und die Colomar ermordet?«
Mistral sah sich außerstande, darauf zu antworten.
Später widmete er sich der Erstellung der angeforderten Zwischenbilanz für den Sesselpupser im Innenministerium und schickte ihn per E-Mail an seinen Vorgesetzten.
Auf dem Heimweg hörte er FIP, wo ein Lied von Katie Melua lief. Die sanfte Stimme einer Moderatorin löste die der Sängerin ab und rief Mistral seine Ermittlungen ins Gedächtnis zurück. Wieder einmal hatte die Anspannung des Tages ihn völlig ausgelaugt. An diesem Abend jedoch fuhr er ohne Zwischenfälle und dachte an Dalmate, der aus einem anderen Jahrhundert zu stammen schien.
Clara wartete im Garten auf Ludovic. Er setzte sich neben sie, seufzte und legte seine Hand auf ihre.
»Merkwürdig«, sagte sie. »Ich habe dich beobachtet, als du ankamst. Zwar wirkst du extrem erschöpft und siehst zum Fürchten aus, aber trotzdem habe ich den Eindruck, dass du heute gelöster bist.«
»Ich habe heute eine sehr seltsame Geschichte gehört.«
»Erzähl!«
»Nicht jetzt. Ein anderes Mal. Auf dem Heimweg habe ich einen Tisch in einem Restaurant am Trocadéro reserviert, und zwar im Garten. Wir können also draußen sitzen und den angestrahlten Eiffelturm betrachten. Das wird bestimmt schön. Ich dusche, ziehe mich um, und dann können wir gleich fahren.«
»Ich würde gern morgen einen Ausflug nach Honfleur machen.«
»Einverstanden. Du fährst. Am besten buchen wir ein Zimmer, dann können wir die Seele baumeln lassen.«
»Und was ist mit deinen Ermittlungen? Sind sie abgeschlossen?«
»Ach was, kein Gedanke. Aber ich habe den Eindruck, dass allmählich einiges klarer wird.«
»Bist du sicher, dass du nicht zurückgerufen wirst?«
»Eigentlich schon. Außer es passiert etwas wirklich Dramatisches!«
O LIVIER É
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