Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
der rasch eintrat und mit einer heftigen Bewegung die Tür hinter sich zuknallte. »Der Kerl hat es aber eilig!«, dachte Léonce.
Er setzte sich wieder vor den Fernseher, drehte den Ton lauter und genoss die Unterhaltungssendung. Als der Mann die Nachbarwohnung verließ, schlief Léonce tief und fest in seinem Fernsehsessel und hörte nichts. Über den Bildschirm flimmerte eine Reportage über Krokodile.
Zitternd vor Müdigkeit, Angst und Nervosität verließ der Mann das Haus, in dem sich der dritte Akt abgespielt hatte. Er hatte es hinter sich. Genau das hatte er seinem Spiegel versprochen. Wenn er die Ratschläge befolgte, musste er jetzt aus Paris fliehen. Und zwar sofort. Weit weg. Dann musste er warten. Schwierig war das nicht. Trotzdem hielt ihn eine unbekannte Macht zurück. Sie zwang ihn, zu bleiben und die Ereignisse zu verfolgen. Er rechtfertigte sich vor sich selbst. Wenn ich jetzt einfach verschwinde, fällt der Verdacht sofort auf mich. Sobald es brenzlig wird, haue ich sofort ab. Aber so weit ist es noch lange nicht .
7
A M GLEICHEN T AG
Der Mann hatte nur ein Bedürfnis: So schnell wie möglich das 6. Arrondissement zu verlassen – den Schauplatz seiner drei Morde. Ohne Ziel fuhr er langsam durch die Straßen von Paris. FIP sendete Cool-Jazz. Ein Bossa nova, gespielt von Stan Getz auf dem Tenorsaxofon. Durch die offenen Scheiben drang warme Luft ins Wageninnere. Hingerissen von der Musik ließ sich der Mann durch den Pariser Verkehr treiben. Diese Woche hatte er drei weitere Menschen umgebracht. Irgendwie war es eine Verpflichtung gewesen. Er empfand nichts. Nicht das geringste Gefühl.
Eine einfache Kneipe mit weißem Neonlicht und ein paar Gästen sowie ein Parkplatz unmittelbar davor erregten seine Aufmerksamkeit. Er spürte die ersten Vorboten: Bald würde der Kopfschmerz einsetzen. Ohne nachzudenken, schluckte der Mann eine Tegretol und spülte sie mit einem Rest Wasser aus seiner Flasche hinunter. Überrascht entdeckte er auf dem Wagenboden ein zerknittertes Zigarettenpäckchen, in dem sich noch eine Zigarette und ein Feuerzeug befanden. Er hatte es völlig vergessen. Nach einer Weile erinnerte er sich, dass er Zigaretten und Feuerzeug vor wenigen Monaten in der Nähe von Pontoise gekauft hatte, und zwar am Ende der ersten Dreierserie. Genüsslich zündete er die Zigarette an und inhalierte tief. Der Tabakdunst weckte die Erinnerung an längst vergangene Schreie und Gewalttaten.
Der Mann lehnte rauchend an seinem Auto, während sein Blick sich in der Ferne verlor. Er rief sich die Orte ins Gedächtnis, an denen er Frauen getötet hatte – in der Nähe von Pontoise und in Paris. Als er fertig geraucht hatte, zermalmte er die Kippe mit der Schuhspitze und verscheuchte gleichzeitig seine Erinnerungen. Er wollte nicht mehr daran denken. Der Mann ließ Fenster und Türen offen, denn er wusste, dass niemand ein so altes Auto stehlen würde. Nur der Kofferraum war verschlossen, das hatte er mindestens drei Mal überprüft. Darin befanden sich ein Computer, eine damit verbundene Festplatte, zwei ausgeschaltete Mobiltelefone, eine große Tasche mit mehreren Heften und zwei, drei Kleinigkeiten aus der Wohnung seines letzten Opfers. Die Fahrgastzelle hingegen war völlig leer. Er schwang sich einen schwarzen Rucksack über die Schulter, in dem er seine Latex-Handschuhe, Gummi-Badehauben, nicht benutzte Spiegelscherben, einen kleinen Schreibblock, eine geöffnete Schachtel Präservative, einen Kugelschreiber sowie das Industrieklebeband transportierte – alles Dinge, die er jetzt nicht mehr brauchte und in die Seine werfen wollte. Nach einigem Nachdenken steckte er auch die beiden Mobiltelefone in den Rucksack. Er wusste, dass Handys nur allzu leicht von der Polizei lokalisiert werden konnten. Den Laptop und die Festplatte würde er noch behalten, weil er wissen wollte, was sie enthielten.
Der Mann setzte sich in die Kneipe und beobachtete die anderen Gäste. Sie entstammten allen Altersschichten und langweilten sich zu Tode. Alle litten unter der drückenden Hitze und warteten bis zur Polizeistunde, ehe sie nach Hause gingen. Ein bisschen wie ich , dachte er. Er war so in Gedanken versunken, dass er den Kellner nicht bemerkte, der vor ihm stand und ihn laut ansprechen musste, ehe der Mann aufmerksam wurde. Er bestellte ein Bier und ein Sandwich, leerte das Glas in einem Zug und bestellte sofort ein neues. Mit dem Sandwich hatte er größere Schwierigkeiten. Das Brot war wie Gummi, eine traurige
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