Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
so.«
»Da hast du völlig recht. Erst kürzlich haben meine Jungs und ich uns die gleiche Frage gestellt. Wann wird man den Leuten endlich reinen Wein einschenken? So kann das doch nicht weitergehen!«
»Das finden wir alle. Und du hast dir einen angedudelt, weil du die Nase voll hast.«
Der Mann spürte, dass er seinen Besuch auf der Wache nun beenden sollte. Für seine Begriffe hatte er der Höflichkeit ausreichend Genüge getan. Und außerdem war es besser, wenn die jungen Polizisten ihn so schnell wie möglich vergaßen.
»Na gut, vielen Dank auch. Ihr habt mir einen großen Gefallen getan.«
»Klar. Wir müssen doch zusammenhalten, vor allem jetzt. Wo wohnst du?«
»In der Rue de Budapest.«
»Wir bringen dich schnell heim. Komm!«
Vor seiner Haustür streckten ihm die Polizisten zum Abschied die Hände entgegen. Der Mann zögerte drei Sekunden lang. Er fürchtete, die Hände könnten feucht und schmutzig sein. Doch dann überwand er sich. Das Polizeiauto legte einen Kavalierstart hin. Der Mann sah ihm nach, wischte sich die Hände ausgiebig an der Hose ab und zog los, seinen Rucksack zu holen.
»Mein Gott, die Fresse möchte ich nicht haben«, sagte einer der Beamten im Auto. »Sieht aus wie ein Krieger.«
»Dem möchte ich jedenfalls nicht in die Hände fallen.«
Der Mann kehrte in die Straße zurück, wo man ihn festgenommen hatte und wo er seinen Rucksack versteckt hatte. Er bückte sich. Doch der Rucksack war nicht da. Er zog sein Feuerzeug aus der Tasche. Im Licht der kleinen Flamme suchte er weiter. Unter dem Auto war nichts. Unter dem anderen Lieferwagen ebenfalls nicht. Der Mann musste sich damit abfinden, dass der Rucksack verschwunden war. Irgendwann ging er nach Hause. Wütend und plötzlich wieder ganz nüchtern.
8
F REITAG , 8. A UGUST 2003
In dieser Nacht konnte der Mann nicht schlafen. Das Verschwinden seines Rucksacks ging ihm nicht aus dem Sinn. Er versuchte die drohende Katastrophe abzuschätzen und spielte mögliche Szenarien durch. So könnte derjenige, der den Rucksack gefunden hatte, die Handys benutzen. Die Polizei würde ihn orten, er würde vermutlich festgenommen und müsste Erklärungen liefern. Das wäre verheerend. Der Finder würde berichten, was in dem Rucksack war. Die Polizei würde der Sache vom Fundort aus auf den Grund gehen, obwohl der sich nicht in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Wohnung befand.
Der Gedanke an diese Möglichkeit machte den Mann ganz krank vor Angst. Er versuchte sich mit einer anderen Möglichkeit zu beruhigen. Derjenige, der den Rucksack gefunden und durchsucht hatte, könnte vermutet haben, dass es hier um eine krumme Sache ging, und ihn aus Angst vor der Polizei weggeworfen haben. In den Augen des Mannes wäre das die beste Lösung. Allerdings auch die unwahrscheinlichste. Trotzdem klammerte er sich mit aller Macht an diese ungewisse Hoffnung.
Um sechs Uhr widmete er sich wie jeden Tag seiner Gymnastik. Allerdings schlecht gelaunt. Die lange, kalte Dusche entspannte ihn. Anschließend spritzte er sich unter unendlichen Vorsichtsmaßnahmen in winzigen Dosen ein Mittel in bestimmte Gesichtspartien, ohne dabei einen Spiegel zu Hilfe zu nehmen. Zuletzt spülte er seine Tabletten mit einem großen Glas kalter Sojamilch hinunter.
Auch Mistral tat in dieser Nacht kein Auge zu. Es war das erste Mal, dass er überhaupt nicht schlief. Die Hitze war nur zum Teil schuld daran. Mistral wusste, dass seine Schlaflosigkeit nichts mit dem Wetter zu tun hatte, und das ärgerte ihn. Um sich zu beschäftigen, ließ er den Fall Norman noch einmal Revue passieren. Doch im Augenblick gab es nur Fragen, keine Antworten. Er spürte, dass die Angelegenheit alles andere als einfach war.
Um vier Uhr entschied er, dass die Nacht für ihn endgültig zu Ende war, trank ein großes Glas kaltes Wasser und ging leise in sein Arbeitszimmer. Er hatte Lust zu lesen. Schon seit Jahren war er ein Fan von Hugo Pratt und sammelte die Comics über Kapitän Corto Maltese. Schon streckte er die Hand nach einem der Bände aus, als ihm ein schmales Buch im Regal darüber ins Auge fiel. Nachtflug von Saint-Exupéry.
Mistral hatte den Roman im Gymnasium in Aix-en-Provence als Schullektüre gelesen. Er nahm das Buch in die Hand, strich über den Deckel und musste bei der Erinnerung lächeln. Er klappte es auf, blätterte es durch und fand im zweiten Kapitel eine mit Bleistift geschriebene Anmerkung. »Ein Vorgesetzter« hatte er über einen Absatz geschrieben – wahrscheinlich
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