Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
seine Visitenkarte hinterlassen müssen, damit wir ihm in dieser kurzen Zeit auf die Spur hätte kommen können. Wir konnten ihn beim besten Willen nicht daran hindern, ein drittes Mal zu töten.«
Mistral blickte Calderone an, der wie üblich umgekehrt auf seinem Stuhl saß, mit gespreizten Beinen und auf die Lehne gestützten Armen. Er hatte die Ärmel seines weißen Hemdes leicht hochgekrempelt; der Knoten seiner dunklen Krawatte war gelockert und der oberste Hemdknopf geöffnet. Ihm fehlt lediglich das Streichholz im Mundwinkel, dann wäre er Lino Ventura tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten , dachte Mistral.
»Machen Sie weiter, Farias. Wir sind ganz Ohr.«
Farias drückte die Abspieltaste. Wieder tauchten die Polizeibeamten in die Live-Übertragung eines Mordes ein. Sie vermieden es, einander anzusehen. Die Aufzeichnung ging mit schwer erkennbaren Geräuschen weiter. Als Lora Dimitrova laut aufstöhnte, schloss Ingrid Sainte-Rose die Augen. Roxane Félix musterte ihren Nagellack, und José Farias starrte auf seine Schuhspitzen. Mistral und Calderone wechselten einen raschen Blick.
» Mein Gott, wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Wollen Sie Geld? Ich habe fast nichts im Haus. Vielleicht die Scheckkarte? Die Pin-Nummer?«
»Schnauze!«
»Tun Sie mir nicht weh! Die junge Frau beginnt zu weinen. Warum nehmen Sie meinen Computer mit? Ich brauche ihn zum Arbeiten. Er ist nichts wert, dazu ist er viel zu alt! So werfen Sie ihn doch nicht in die Tasche. Er geht sonst kaputt!«
»Halt die Fresse. Noch ein Ton, und ich bring dich um!« Der Mann spricht ruhig und ohne die Stimme zu erheben.
In der Wohnung wird es ruhig. Man hört nur das Schluchzen der jungen Frau und die Geräusche, die beim Abnehmen des Computers und beim Verstauen in der Tasche entstehen. Anschließend ertönen dumpfe Schläge. Die junge Frau schluchzt vor Schmerz laut auf.
»Wehe, du stehst auf. Wo sind die Sachen, die du geschrieben hast?«
»Im Laptop, auf der Festplatte und auf den USB-Sticks. Sie haben alles genommen.« Zwanzig Sekunden lang herrscht absolute Stille.
» ICH WILL GAR NICHT WISSEN, WER SIE SIND!« Die junge Frau schreit es heraus und weint vor Angst.
»Sieh mich nicht so an!«
»Ich glaube, Sie sind verrückt. Es muss die Hitze sein.«
»Ich bin überhaupt nicht verrückt, und die Hitze ist mir völlig egal. Wirst du jetzt endlich still sein?«
Lora Dimitrova wird kühner und spricht lauter.
» Als ich die Tür öffnete, dachte ich mir schon ...«
»SCHNAUZE!« brüllt der Mann so gellend, dass die Polizisten den Schluss von Dimitrovas Satz nicht verstehen können. Schläge prasseln auf die Journalistin nieder. Die junge Frau schreit auf, dann wird es still.
»Was schreiben Sie da auf das ...«
Wieder hört man dumpfe Schläge. Der Mann schreit vor Wut auf. Die junge Frau verstummt und scheint ohnmächtig zu werden.
Hilflos lauschten die Polizisten der Qual des Opfers.
Die Geräusche entfernen sich.
Der Mann ist offenbar dabei, Lora Dimitrovas Schlafzimmer zu durchwühlen.
Schritte. Der Mann kommt zurück. Die Frau stöhnt.
» Wieso bist du aufgestanden? «
Lora Dimitrova versucht zu schreien, doch der Mann bringt sie mit heftigen Schlägen zum Schweigen. Die Frau bricht zusammen.
Der dumpfe Laut, mit dem sie auf dem Boden aufschlug, ließ die Polizisten zusammenfahren.
Der Mann scheint Selbstgespräche zu führen, aber so leise, dass man ihn nicht versteht.
Langsam kommt die junge Frau wieder zu sich. Sie stöhnt und versucht zu sprechen, doch die Worte kommen zu schnell und abgehackt, um sie verstehen zu können. Mit wenigen Sätzen ist der Mann wieder bei ihr.
Farias tippte auf die Pausentaste. Alle schauten sich an und atmeten tief durch, als hätten sie nicht gewagt, während der Aufzeichnung des Mordes Luft zu holen.
»Sie weiß, dass sie sterben muss. Man spürt förmlich ihre Panik.«
»Ist noch mehr drauf, José?« Calderone wies auf das Diktafon.
»Ja, das Schrecklichste kommt noch.«
Sie wurden Ohrenzeugen des Handgemenges, einer raschen Abfolge verschiedener Geräusche und eines hektischen Stöhnens. Später erst, nach mehrmaligem Hören, konnten sie die Geräusche dem Mord, den Spiegelscherben in Augen und Mund und der Vergewaltigung der jungen Frau zuordnen.
Als der Mörder die Tür mit einem lauten Krachen hinter sich ins Schloss fallen ließ, fühlten sich die Beamten fast erleichtert. Alle hingen ihren Gedanken nach; die wenigen Minuten der Aufzeichnung hatten sich in ihr
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