Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
mitgebrachten Wasserflasche. Dann drehte er die Rückenlehne seines Sitzes ein wenig schräger. Im Auto war es angenehm kühl.
Zwanzig Minuten später riss Calderones schüchternes Klopfen Mistral aus seiner Schläfrigkeit.
»Haben Sie sich erholt?«
»Habe ich. Sind unsere Experten fertig?«, fragte Mistral.
»Ja. Wir können mit der Beweisaufnahme anfangen.«
Auf dem Weg nach oben kamen ihnen zwei Spezialisten der Spurensicherung entgegen. Schon auf der Treppe streiften sie ihre Overalls, Handschuhe und Überschuhe ab. Ihre Gesichter trieften vor Schweiß. Einer der beiden teilte Mistral mit, dass der Fotograf oben geblieben war.
Mistral und Calderone betraten die Wohnung in Begleitung zweier Polizisten. Calderone filmte, Mistral sprach in sein Diktafon, die beiden Polizisten untersuchten die Räumlichkeiten.
»Können wir jetzt nicht das Fenster öffnen? Schließlich war der Erkennungsdienst schon da. Ich kann die Fliegen einfach nicht mehr ertragen. Von diesem dauernden Brummen wird mir echt schlecht!«
Mistral blickte Calderone verwundert an. So kannte er den Kollegen gar nicht!
»Vincent, Sie überraschen mich. Selten, dass Sie sich so hinreißen lassen. Es muss also wirklich unerträglich sein.«
»Sie sagen es.«
Mistral konzentrierte sich auf die Wohnung. Das Wohnzimmer diente gleichzeitig als Bibliothek und Arbeitszimmer. In Regalen standen Hunderte Bücher und Magazine; eine auf zwei Böcken ruhende Holzplatte diente als Schreibtisch. Ein kleiner Fernseher und ein Tonbandgerät waren diskret in die Bibliothek integriert. Ein sehr schönes Foto zeigte eine hübsche junge Frau mit langen, dunklen Haaren. Ihre Sonnenbrille hatte sie ins Haar geschoben und blickte mit einem leichten Lächeln ins Objektiv. Calderone und Mistral betrachteten das Foto und verglichen es mit dem im Personalausweis, den sie in einer Handtasche gefunden hatten. Es handelte sich um Lora Dimitrova, vierunddreißig Jahre alt, Bulgarin.
Die Beamten knieten neben der Leiche nieder. Auf dem Bauch der jungen Frau lag ein Blatt Papier, auf dem handgeschrieben folgender Satz zu lesen war: »Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit; Aufbewahren hat seine Zeit, und Wegwerfen hat seine Zeit.«
»Wir müssen Dalmate fragen, aber ich gehe jede Wette ein, dass der Text wieder aus dem Buch Prediger stammt. Vincent, wir nehmen jetzt das Tuch weg.«
Das ursprünglich weiße Tuch war hart von geronnenem Blut. Das mit Spiegelscherben gespickte Gesicht der jungen Frau erschien. Die langen, schwarzen Haare erinnerten an das Foto von Laura Dimitrova. Ansonsten war das Gesicht bis zu Unkenntlichkeit aufgedunsen.
»Es gibt einen Unterschied zu den anderen Opfern, und zwar einen bedeutsamen.«
Mistral nickte. Ihm war klar, was Calderone sagen wollte.
»Im Gegensatz zu sonst hat der Täter sich auf Augen und Mund konzentriert. Die Spiegelscherben stecken an anderen Stellen.«
12
A M GLEICHEN T AG
Die meisten Polizisten und Feuerwehrleute hielten sich inzwischen entweder im Eingangsbereich oder auf dem Treppenabsatz auf. Alle wollten zumindest einmal einen Blick auf den Tatort erhaschen, zumal es sich um den dritten Mord dieser Art handelte. Serienmorde waren selten und öfter in Fernsehkrimis als in der Wirklichkeit zu erleben. Mistral hatte es vorgezogen, die junge Staatsanwältin direkt zu informieren. Der Staatsanwalt im Bereitschaftsdienst hätte sich erst in die Materie einarbeiten müssen. Die junge Frau erschien eine halbe Stunde später, gleichzeitig mit dem Gerichtsmediziner, der eine Wolke von Schweiß und kaltem Zigarrendunst um sich verbreitete. Mistral stellte die beiden vor; sie waren einander noch nie begegnet.
»Sie wissen doch sicher, dass die Polizisten mich ›Augentoupet‹ nennen, oder?«
Unwillkürlich mussten alle lächeln – vor allen Dingen die Polizisten, denen nicht bewusst war, dass der Arzt seinen Spitznamen kannte. Der Gerichtsmediziner zog Latexhandschuhe über und lieferte der Staatsanwältin, die sehr blass war und sich ein Taschentuch vor die Nase hielt, eine Demonstration seines Könnens. Er arbeitete rasch und geschickt, während er gleichzeitig kurze Kommentare von sich gab. Mit einem Stift wies er auf die mit Klebeband gefesselten Hände. Wie auch bei den beiden anderen Morden war die junge Frau vollständig nackt und wies Anzeichen einer Vergewaltigung auf. Jedes Mal, wenn der Arzt die Leiche bewegte, wurden Gase frei. Die Staatsanwältin hielt es nicht mehr aus. Sie flüchtete sich ans
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