Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Gehirn gebrannt. Ingrid und Roxane bissen sich auf die Lippen. Mistral kritzelte geometrische Figuren auf seinen Block. Niemand wagte es, die Stille zu unterbrechen. Schließlich legte Mistral den Stift beiseite und rieb sich am Hals.
»José«, sagte er mit rauer Stimme, »ich muss Sie loben. Toll, dass Sie das Diktafon gefunden haben. Befanden sich zur Tatzeit noch andere Personen im Haus?«
»Im zweiten Stock war niemand, und auch die Leute vom dritten Stock waren am Donnerstagabend nicht zu Hause.«
»Können Sie die Aufzeichnung kopieren, oder sollten wir das lieber der Spurensicherung überlassen? Ich hätte gern eine Kopie für unsere Ermittlungen.«
»Kein Problem, damit kann ich sofort anfangen.«
»Gut. Morgen früh nehmen Sie den ersten TGV nach Lyon und bringen die Aufzeichnungen aus der Telefonzentrale der Feuerwehr und das Diktafon ins Technische Zentrum. Sie kennen sich ja inzwischen aus. Haben Sie Élisabeth Maréchal eigentlich letztes Mal getroffen?«
»Habe ich. Sie wollte die erste CD schnellstens überprüfen und hat mir Grüße an Sie ausgerichtet.«
»Nun hätte ich gern eure Reaktionen auf das Gehörte. Vincent?«
»Ich glaube, dass zwischen der Frau und dem Mörder eine Verbindung besteht, aber ich kann nicht sagen, was es ist. Bestimmte Sätze kann man unterschiedlich interpretieren, daher müssen wir die Aufzeichnung sicher noch oft hören, auch wenn es schwerfällt.«
»Sie haben recht. Leider bleibt uns das nicht erspart. José? Ingrid? Roxane? Irgendwelche Eingebungen?«
»Ich stimme Vincent zu«, erklärte Ingrid. »Außerdem scheint es mir wichtig, eine Verbindung zwischen den drei Opfern zu suchen.«
José und Roxane nickten zustimmend.
Nachdem die drei jungen Beamten gegangen waren, blieben Mistral und Calderone allein zurück.
»Ich habe so etwas noch nie erlebt. Schrecklich! Normalerweise sind Opfer und Mörder die Einzigen, die wissen, was sich während eines Verbrechens abspielt. Heute wurden wir alle hilflose Ohrenzeugen eines Mordes. Okay, morgen ist Montag. Wir brauchen unbedingt Verstärkung. Kommt irgendwer aus dem Urlaub zurück?«
»Nein. Lediglich Dalmate ist morgen wieder da.«
»Es wird ihm nicht gefallen, dass er den Beginn des Falles Dimitrova verpasst hat.«
»Schon richtig. Aber man bleibt eben nur im Spiel, wenn man das Spielfeld nicht verlässt.«
A USZUG AUS DEN T RAUM - UND T AGEBÜCHERN DES J.-P. B.
1984
Manchmal denke ich an meinen Hund Tom. Er ist seit einem Monat tot, und das macht mich ganz krank. Er war neun Jahre alt und immer auf Tour. Ein Lieferwagen hat ihn über den Haufen gefahren. Der Kerl hat nicht einmal angehalten. Tom war mein einziger Vertrauter. Er hat mich begleitet, seit ich ein kleiner Junge war. Ich komme nicht darüber hinweg. Wieder spüre ich diese endlose, gähnende Leere in mir, die auch vor Tom schon da war. Der Hund konnte das Gefühl lindern. Er hat mich getröstet und verstand jedes Wort. Was soll ich jetzt nur tun?
Dieser Tage war ich mit meiner Mutter im Supermarkt. Als wir das Geschäft verließen, schob ich einen zum Bersten vollen Einkaufswagen vor mir her. Natürlich blockierte mal wieder eines der Räder. Es ist immer das Gleiche: Diese Dinger funktionieren nie. Und klar war auch, dass ich mich in der Reihe irrte und das Auto nicht wiederfand. Und da, auf dem Parkplatz, habe ich ihn gesehen. Er stand zwischen zwei Autos. Ich habe ihn sofort erkannt. Es war der Typ, den ich seit meiner frühesten Kindheit in meinen Träumen gesehen habe – immer von hinten. Wie immer ging er ruhig und ohne sich umzudrehen. Ich sagte zu meiner Mutter: »Siehst du den Kerl da drüben? Mach jetzt bloß kein Geräusch. Ich will endlich wissen, wer das ist.« Sie hat mich ganz merkwürdig angesehen. Ich bin ihm leise gefolgt und war keine zwei Meter mehr von ihm entfernt. Ich hätte den Arm ausstrecken und ihn berühren können. Doch dann fing er an, genau so zu gehen wie ich. Ich rannte los – noch viel schneller, als wenn ich einer alten Schachtel die Handtasche klaue –, aber der Typ startete ebenfalls durch. Er war zwei Meter vor mir, aber ich schaffte es einfach nicht, ihn zu erreichen. Ich habe gerufen, damit er sich umdreht, denn ich war außer Atem. Er aber rannte weiter, ohne dass ich etwas tun konnte.
Ich habe Leute gefragt, in welche Richtung er gelaufen war. Die Spinner haben geantwortet, dass sie zwar mich hätten rennen sehen, aber dass niemand vor mir war. Langsam ging ich zurück zu meiner Mutter. Ich hatte
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