Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
dachte Mistral im Bruchteil einer Sekunde, konnte aber nicht reagieren. Wie gelähmt sah er den jungen Mann an, der ihn aus einer Entfernung von weniger als einem Meter mit dem Messer bedrohte.
Calderone erfasste die Situation sofort. Er stürmte auf den Mann mit dem Messer zu, der jedoch sprang zurück und versuchte, das geöffnete Fenster zu erreichen. Calderone folgte ihm und erwischte ihn am Kragen, als er bereits rittlings auf dem Fenstersims saß. Zwar wehrte sich der junge Mann nach Leibeskräften, doch Calderone drehte ihm den Arm mit dem Messer um und stieß ihn ins Zimmer zurück.
Innerhalb einer Minute war alles vorbei. Die vier Männer wurden abgeführt.
»Danke, Vincent«, sagte Mistral. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los war, und ...«
»Nichts zu danken. Ich war dem Kerl doch viel näher als Sie.«
»Wenn Sie meinen ...«
Auf dem Flur der Kriminalpolizei warteten fünfzehn Pakistani in Handschellen auf ihre Vernehmung. Die Behördenmaschinerie lief an. Für die Verhöre allerdings brauchte man Übersetzer, die sich um vier Uhr morgens in ihren Betten befanden und keine Veranlassung sahen, mitten in der Nacht aufzustehen. Andere waren in Urlaub gefahren. Um keine Zeit zu verlieren, fotografierte man die verhafteten Männer, nahm ihnen die Fingerabdrücke ab und sicherte ihre DNA.
Zahid Khan und Hafiz Jaabar, die von allen als Besitzer der Handys angegeben worden waren, saßen getrennt voneinander in den Büros von Calderone und Dalmate und wurden schon einmal vorläufig verhört. Dazu bediente man sich der englischen Sprache – die zwar keiner von ihnen perfekt sprach, aber immerhin konnte man sich verständigen.
Mistral rief Clara an.
»Es war reine Routine und überhaupt nicht gefährlich; aber das hatte ich dir ja vorher schon gesagt. Ich bin jetzt wieder im Büro, komme aber noch nicht gleich nach Hause. Ich melde mich später noch einmal.«
Im Anschluss informierte er Balmes.
»Wir haben die Männer. Die Festnahme verlief absolut problemlos. Die Verstärkung von der Schutzpolizei hat ganze Arbeit geleistet. Sobald ich mehr weiß, benachrichtige ich dich.«
Mistral war auf dem Weg zum Kaffeeautomaten. Unterwegs genoss er die Betriebsamkeit, die auf der gesamten Etage herrschte. Er liebte die besondere Atmosphäre bei der Kriminalpolizei, die Tag und Nacht arbeitete, um Verbrechen aufzuklären.
Mit einem Pappbecher in der Hand studierte er zum wiederholten Mal aufmerksam die Fotos, die er an eine Korkwand gepinnt hatte. Es waren die sechs Opfer und die sechs Tatorte, alle stark vergrößert. Sie sind wirklich identisch , dachte er. Man sieht, dass es der gleiche Täter sein muss, und doch ist es unmöglich . Trotz des Schlafmangels fühlte er sich überhaupt nicht müde. Adrenalin, Aktivität und Lärm wirkten wie Drogen auf ihn.
Er klappte sein Notizbuch auf und las nach, was er sich am vergangenen Samstag zu den Verbrechen in Pontoise aufgeschrieben hatte. »Die Fotos aus Pontoise mit denen aus Paris vergleichen! Unstimmigkeiten.« Jetzt stand Mistral vor ebendiesen Fotos und musterte sie konzentriert, ehe er sich erneut den Verhörprotokollen, den Befunden und den Zeugenaussagen zuwandte.
Gegen fünf Uhr morgens und vier Becher Kaffee später kamen Calderone und Dalmate in Mistrals Büro, um über die Verhöre von Zahid Khan und Hafiz Jaabar zu berichten.
»Wir haben sie getrennt voneinander vernommen. Ihre Erklärungen stimmen überein. Beide sind illegale Einwanderer und arbeiten schwarz für einen legal gemeldeten pakistanischen Unternehmer, der ihnen einen Hungerlohn bezahlt. Immer nur Bargeld, wohlgemerkt. Als ihr Chef wieder einmal nicht mit dem Lohn rausrücken wollte, haben sie sich beschwert. Der Kerl hat ihnen daraufhin einen Teil bezahlt und ihnen für den ausstehenden Rest die Handys überlassen. Sie haben uns Namen und Adresse ihres Brötchengebers mitgeteilt, der ebenfalls im 10. Arrondissement wohnt.«
Mistral blickte fast automatisch auf seine Uhr.
»Es ist beinahe sechs. Zeit für den Milchmann, aber auch die Polizei darf ganz legal vorstellig werden. Paul, nehmen Sie Ihr Team mit und holen Sie den Kerl. Ich glaube kaum, dass ihm eine Ausrede einfällt.«
Calderone schlug vor, vorher noch gemeinsam einen Kaffee zu trinken. Auf ihrem Weg zum Automaten sahen sie, dass in fast allen Büros gearbeitet wurde.
»Die beiden Telefone wurden untersucht. Es gab weder gespeicherte Namen noch irgendwelche verwertbaren Hinweise. Lediglich die pakistanischen Rufnummern
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