Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
seinem Anwalt nicht entgangen war, würde er vermutlich einen Haftprüfungsantrag stellen.
Ein heftiges Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Grübeleien. Ein Polizist trat ein und grüßte förmlich.
»Der Angeklagte und sein Verteidiger sind da, Herr Vorsitzender.«
»Danke. Führen Sie sie herein.«
Von zwei Polizisten begleitet betrat Brial in Handschellen das Büro. Sein Anwalt folgte ihm. Der Richter wies auf zwei Stühle vor seinem Schreibtisch; die beiden Polizisten setzten sich in die Nähe der Tür.
Der Richter musterte Brial. Sofort fiel ihm auf, dass der Mann noch dicker geworden war. Seine blaue, zerknitterte Hose sah aus, als würde sie gleich platzen. Das blau karierte Hemd spannte sich über seinem Bauch und gab den Blick auf den Nabel frei. Brial war fett, unförmig und wabblig, und sein Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck. Er hatte sich mindestens zwei oder drei Tage nicht mehr rasiert. Sein langes, fettiges Haar war am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mit kleinen, tief liegenden Schweinsaugen starrte er den Richter gleichgültig an. Schließlich stieß er einen schwer zu deutenden Seufzer aus und widmete sich der Betrachtung seiner Wurstfinger mit schmutzigen Fingernägeln. Zeit schien für ihn keine Rolle zu spielen. Sein Verteidiger hingegen, ein hagerer, agiler Mensch, legte eine gewisse Ungeduld an den Tag und schien es kaum erwarten zu können, dass der Richter endlich mit der Vernehmung begann. Nicolas Tarnos wusste, dass der Anwalt gleich zum Angriff übergehen würde.
Tarnos’ Sekretärin erhob sich, hängte das Schild »Vernehmung, bitte nicht stören« an die Tür und setzte sich wieder an ihren Platz. Ihre Aufgabe bestand hauptsächlich darin, die Unterredung zwischen dem Häftling, seinem Anwalt und dem Richter zu protokollieren. Vor ihr auf dem Schreibtisch standen Bilder von ihren drei Kindern und ihrem Mann. Bald würde sie sie auswechseln müssen, denn die Kinder waren größer geworden. Die Uhr auf ihrem Bildschirm zeigte 16.15 Uhr. Da sie sowohl die Akte als auch den Anwalt kannte, schätzte sie, dass die Vernehmung mindestens bis halb acht dauern würde. Und dann kam noch der einstündige Heimweg. Glücklicherweise arbeitete ihr Mann im heimatlichen Dorf als Lehrer und konnte sich um die Kinder kümmern.
Der Richter begann mit der förmlichen Einleitung. Er sprach langsam. Die Sekretärin hatte keine Mühe, ihm zu folgen. Fünfzehn Minuten später ging Nicolas Tarnos zu dem Frage-und-Antwort-Spiel über.
»Ich würde gern noch einmal auf Ihre Alibis zu sprechen kommen. Abgesehen von Ihrer Behauptung, die Morde nicht begangen zu haben und nicht am Tatort gewesen zu sein, haben wir von Ihnen keine Hinweise bekommen. Das ist ein bisschen wenig. Sie geben zu, in allen drei Häusern gewesen zu sein, wo die Morde stattgefunden haben. Könnten Sie zu Ihren Alibis bitte genauer Stellung nehmen?«
Darauf hatte der Anwalt nur gewartet, und Nicolas Tarnos wusste das.
»Herr Vorsitzender, es gibt sehr wichtige Neuigkeiten, die ich Ihnen gern mitteilen würde. In der vergangenen Woche sind in Paris drei junge Frauen ermordet worden. Es handelt sich um exakt die gleiche Vorgehensweise wie bei den Monsieur Brial zur Last gelegten Morden. Monsieur Brial allerdings befand sich zu jener Zeit in Haft.«
»Diese Tatsachen sind mir bekannt, Herr Anwalt. Haben Sie die Akten der Kriminalpolizei eingesehen, dass Sie so sicher sein können?«
»Natürlich nicht. Ich sehe mich jedoch gezwungen, die Presse einzuschalten, die offenbar bisher noch nichts von den Pariser Fällen weiß. Monsieur Brial hat nie geleugnet, in den Wohnungen der drei Opfer in Pontoise gewesen zu sein, weil er dort gearbeitet hat. Aus diesem Grund ist es auch völlig normal, dass seine DNA an den Tatorten zu finden ist. Ehrlich gesagt hätte das Gegenteil eher Anlass zur Sorge gegeben. Und der genetische Fingerabdruck stammte auch nicht aus Sperma, was wiederum eine völlig andere Bedeutung gehabt hätte.«
»Ich würde gern Monsieur Brial selbst dazu hören«, erklärte der Untersuchungsrichter.
Brial sprach langsam, zurückhaltend und ohne Betonung. Man musste genau hinhören, um jedes Wort zu verstehen.
»Ich verstehe überhaupt nichts von diesem Kauderwelsch und frage mich, warum Sie sich so auf mich eingeschossen haben. Ich habe diese drei Frauen nicht getötet. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Natürlich habe ich kein Alibi, weil ich außer meiner Arbeit nichts anderes mache; nach der Arbeit
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