Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
Schrank entdeckt. Ich ging schneller. Es war bereits dunkel, aber ich erkannte ihre Gestalt auf der Veranda. Sie wusste nicht, in welche Richtung ich gegangen war. Ich folgte meinem Weg. Das Merkwürdigste ist, dass ich den Umschlag erst vier oder fünf Jahre später geöffnet habe. Eine ganze Menge Dinge hätten sonst anders laufen können.
19
D ONNERSTAG , 14. A UGUST 2003
Aufmerksam las der Polizeibeamte an seinem Bildschirm den Text, den er soeben eingegeben hatte. Hier und da korrigierte er einen Tippfehler. Mechanisch warf er einen Blick auf die Wanduhr, die ihm genau gegenüber hing. 9.20 Uhr. Der Alte, der ihm gegenübersaß, war der erste »Kunde« dieses Tages, wie die Polizisten mit zähneknirschendem Humor die Leute nannten, die auf die Wache kamen, um Anzeige zu erstatten. Er hatte bereits seit acht Uhr vor der Tür darauf gewartet, dass die Wache endlich geöffnet wurde. Neben ihm stand ein Wägelchen, mit dem er einkaufen gehen wollte, sobald er mit der Anzeige fertig war.
»Gut, ich lese Ihnen noch einmal vor, was Sie zu Protokoll gegeben haben. Es handelt sich lediglich um eine Beschwerde, keine Anzeige. Wir halten den Sachverhalt schriftlich fest und setzen uns mit der betreffenden Person in Verbindung, um die Streitigkeiten beizulegen. Ist das so weit richtig?«
Der alte Mann räusperte sich, ehe er antwortete. Er hatte gehörigen Respekt vor dem Polizisten, obwohl dieser sehr freundlich mit ihm sprach.
»Ja, richtig. Trotzdem wird er sicher erfahren, dass ich es war, der mit Ihnen gesprochen hat. Glauben Sie, dass ich da ein Risiko eingehe?«
»Selbstverständlich müssen wir ihm sagen, dass Sie sich beschwert haben, denn wir schreiten ja aufgrund Ihrer Beschwerde ein. Trotzdem kann ich Ihnen versichern, dass Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Wir sind hier schließlich nicht im Kino. Solche Dinge kommen mindestens fünfzig Mal am Tag vor.«
Der Polizist ließ den Text der Beschwerde über den Bildschirm laufen.
»Ich wiederhole Ihnen noch einmal die wichtigsten Punkte und gebe Ihnen nachher eine Kopie mit. Ihr Name ist Henri Lestrade, geboren 1923 in Châteauroux. Sie sind Rentner und wohnen in der Rue de Budapest 17 in Paris, 10. Arrondissement. Sie beanstanden, dass der Mitbewohner in der Etage über Ihnen, ein gewisser Olivier Émery, seit einigen Monaten jeden Morgen ab sechs Uhr Lärm macht und Sie damit aufweckt. Vor einigen Tagen trafen Sie ihn im Treppenhaus und baten ihn, die morgendliche Ruhestörung zu unterlassen, was er Ihnen auch zusagte. Dennoch blieb der Sachverhalt unverändert. Nun wenden Sie sich an die Polizei mit der Bitte, angesichts dieser Unstimmigkeiten zwischen Mietern einzuschreiten und dafür zu sorgen, dass die Unannehmlichkeiten ein Ende haben. Stimmt das so?«
»Ganz genau. Werden Sie ihn vorladen? Und wann? Erfahre ich davon?«
Henri Lestrade stellte diese letzten Fragen bereits mit dem Stift in der Hand, ehe er das Schriftstück unterzeichnete. Insgeheim bereute er, gekommen zu sein. Seine Frau jedoch redete mittlerweile von nichts anderem mehr als von dem Lärm des Nachbarn. Wenn sie abends zu Bett gingen, sagte sie: »Pass auf, morgen früh werden wir sicher wieder von diesem Egoisten geweckt, der keine Rücksicht auf ältere Leute nimmt.« Und morgens um sechs begann sie den Tag mit den Worten: »Habe ich es dir nicht gesagt?« Henri Lestrade saß zwischen allen Stühlen. Und so hatte er sich an diesem Morgen ohne großes Nachdenken entschlossen, die Polizeiwache des Viertels aufzusuchen.
»Na ja, so schlimm ist es nun auch wieder nicht«, antwortete der Polizist lächelnd. »Entweder schicken wir ihm eine schriftliche Vorladung, oder wir kommen – je nach Uhrzeit – persönlich vorbei. Aber keine Sorge, es wird schon gut gehen.«
Nachdem Henri Lestrade einigermaßen getröstet seiner Wege gegangen war, rief der Polizist zwei jungen Beamte zu sich, die erst seit drei Monaten ihren Dienst versahen.
»Ihr redet mit dem Mann. Wenn ihr gegen 19.00 Uhr klingelt, ist er vielleicht zu Hause. Wenn nicht, steckt ihm eine Vorladung in den Briefkasten.«
Einer der beiden Beamten las die Niederschrift.
»Das ist sicher keine große Sache«, meinte er.
»Deswegen schicke ich euch ja. Auf diese Weise lernt ihr nach und nach, wie man vorgehen muss. Eure Aufgabe ist es, die Wogen zu glätten und diesem Émery klarzumachen, dass seine Nachbarn alte Leutchen sind.«
»Schon kapiert. Bei dieser Hitze sind die Leute sowieso schon nervös. Und wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher