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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yalda Lewin
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letzten 101 Jahre verbracht hatte. Doch nicht nur sie hatte sich dort aufgehalten. Heinrich Ewald, ihr Arzt, hatte um das Stillstehen der Zeit in diesem Zimmer gewusst. Er hatte gewusst, dass er nur alterte, wenn er sich außerhalb dieses Raumes aufhielt. Heinrich Ewald musste lange in diesem Raum gelebt haben, ohne dass irgendjemand etwas davon ahnte.
    Ein eisiger Schauer jagte mir über die Haut. Er hatte dort gelebt. Gemeinsam mit Claras Leiche.
    Ich spürte Übelkeit in mir aufsteigen. Mirella hatte das Passwort gesehen. Und den Ort, von dem es kam. Mit Sicherheit war sie auf dem Weg nach Weißensee! Alleine. Und missachtete damit die Regeln der Akademie. Niemand von uns durfte alleine ermitteln. Unter keinen Umständen. Es war einfach zu gefährlich. Doch Mirella war im Moment nicht sie selbst. Die fehlenden Medikamente, die Nachricht von Ernestos Tod – ganz offensichtlich waren ihr Vorgaben gerade gleichgültig.
    Mit zitternden Fingern schaltete ich mein Handy an. Wieder einmal schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis sich das Netz aufgebaut hatte. Plötzlich ein leichtes Vibrieren in meiner Hand. Jemand hatte eine Nachricht auf meine Mobilbox gesprochen.
    Ich brachte das Handy an mein Ohr um die Nachricht abzuhören. Es war Mirella.
    »Jakob«, hörte ich sie sagen, »mach dir keine Sorgen. Ich fahre zu Wilms. Wie es aussieht, weiß der Mistkerl mehr, als er zugibt. Wir sehen uns später.«
    Mein Herz machte einen Sprung und begann dann wie rasend zu schlagen. Verflucht, sie konnte doch nicht auf eigene Faust ermitteln! Ich wählte Mirellas Nummer, doch es ertönte nur das Freizeichen.
    »Geh ran, Mensch!«, zischte ich und trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Doch sie nahm nicht ab.
    Fluchend schlug ich das Laptop zu und stürzte aus meiner Wohnung. Ich musste zu Mirella. So schnell wie möglich.
    *
    Der Weg in die Klinik erschien mir endlos und einmal mehr verfluchte ich die Tatsache, dass wir als Mitarbeiter der Akademie weder Blaulicht noch Martinshorn verwenden durften. Dies war einer der Momente, in denen ich beides wirklich verdammt gut hätte brauchen können. Es war ein Notfall. Und was für einer.
    In den verstopften Berliner Straßen brachte auch Ernestos schneller Jaguar nichts. Ich kam mir ein wenig pietätlos vor, doch nur für einen Moment. Schließlich gebrauchte ich das Auto eines Toten, um Lebende zu schützen. Ob das irgendwie verwerflich war, darüber konnte ich auch später noch nachdenken. Jetzt fehlte mir dafür die Zeit.
    Als ich das Krankenhaus in Weißensee endlich erreichte, machte ich mir nicht die Mühe, den Wagen ordentlich zu parken, sondern hielt direkt vor dem Eingang. Dann hastete ich die Treppen hinauf. Der Fahrstuhl würde viel zu lange brauchen. Ich rannte die Gänge entlang, das graue Linoleum quietschte unter meinen Sohlen und der beißende Geruch von Desinfektionsmittel stieg mir in die Nase. Endlich war ich an Wilms Krankenzimmer angekommen.
    Ich riss die Tür auf und stürzte hinein.
    Das Bett war leer.
    »Wo ist er hin?«
    Die Krankenschwester, die mir nachgeeilt war, als ich ohne Anmeldung an der gläsernen Personalkabine vorbeigerannt war, starrte überrascht auf das Bett. Dann legte sie die Hand vor den Mund. »Du meine Güte! Ich habe keine Ahnung! Herr Wilms sollte hier sein, er wurde nicht entlassen.«
    »Verflucht!« Ich ballte die Hand zur Faust und schlug so hart gegen den Schrank, dass das Möbel ins Wanken geriet. »Was ist denn das hier für ein Saftladen!?«
    Ich riss die Schranktür so vehement auf, dass einige leere Kleiderbügel mit hellem Klingen aneinanderschlugen. In den Fächern Hemden, Pullover, Socken, Hosen. Ewald hatte nichts mitgenommen.
    Und doch hatte ich das ungute Gefühl, dass er nicht wiederkommen würde. Meine Gedanken überschlugen sich. Der Mann, der in den letzten Jahren als Richard Wilms in dieser Stadt gelebt hatte und von dem ich glaubte, dass er eigentlich Heinrich Ewald war, hatte sich aus dem Staub gemacht.
    Ich heftete meinen Blick auf die Krankenschwester. »War Frau Mistrani hier?« Nur mit Mühe wahrte ich die Ruhe.
    Die Schwester blickte mich ratlos an.
    »Die … Nichte des Mannes!«
    Jetzt verstand sie mich. »Ja«, nickte sie. »Vorhin kam sie her, hat freundlich gegrüßt und ist dann zu ihrem Onkel ins Zimmer. Meinen Sie, sie hat ihn mitgenommen? Das kann ich mir nicht vorstellen, sie hat sich doch so um ihn gesorgt! Allerdings ging es ihm besser, vielleicht sind die beiden einfach nur

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