Die dunkle Seite des Weiß
wahrgenommen haben, zuckte es mir durch den Kopf. Unzählige Male hatte sie in ihrem Tagebuch den Wind in den Kiefern erwähnt. Unzählige Male die verhasste Stille. Doch erst jetzt verstand ich wirklich, was sie meinte. Die Stille lag über dem Areal wie ein Tuch aus Blei. Man drohte darunter zu ersticken.
Ich atmete tief durch.
Und dann hörte ich es.
Ein reißenden Quietschen hallte durch das Gebäude und bohrte sich bis in die Knochen. Es klang wie …
Ein alter Fahrstuhl!
Ich rannte los. Die Flure des verfallenen Sanatoriums schienen kein Ende zu nehmen, wurden zu ewig langen Fluchten aus verwittertem Stein und Geröll, mäanderten zu Schluchten, in denen ich mich zu verlieren drohte. Scherben, Kies und Staub knirschten unter meinen Sohlen und mein Atem ging keuchend. Das schneidende Quietschen wurde lauter und verhallte. In der unerwarteten Stille krampfte sich mein Herz zusammen, nur um gleich darauf zu rasen: Mirella schrie um Hilfe!
Ich keuchte und spürte Panik in mir aufsteigen. Wo war dieser verdammte Fahrstuhl, wo war er?
Ich rannte schneller, einen weiteren endlosen Flur entlang und wäre zweimal fast lang hingeschlagen, als ich, ohne meinen Lauf zu verlangsamen, um die Ecken bog.
Dann, endlich – der Fahrstuhlschacht.
Die Gestalt eines Mannes im Schatten.
Ewald.
Und Mirella.
Mir stockte der Atem, als sich die gesamte Tragweite der Szenerie vor mir aufspannte. Mirella befand sich auf dem Dach der maroden Fahrstuhlkabine, die auf halber Höhe zwischen dem Erdgeschoss und dem Keller schwebte. Sie lag auf dem Rücken, an Händen und Füßen an das verrostete Metall gefesselt. Als sie mich sah, blitzten Verzweiflung und Hoffnung zugleich in ihren Augen auf. Sie riss an den Seilen, die sie am Fahrstuhl hielten, doch diese bewegten sich keinen Zentimeter.
»Ich hatte Sie schon erwartet, Jakob Roth«, sagte der Doktor und trat einen Schritt vor. Sein Gesicht war so ruhig, als hätten wir uns zu einem Kaffeekränzchen auf dem Tempelhofer Feld verabredet.
Nach Atem ringend richtete ich meine Waffe auf ihn. »Binden Sie die Frau los. Sofort!« Ich versuchte, meine Stimme ruhig und beherrscht klingen zu lassen, doch innerlich war ich alles andere als das. Mirella dort zu sehen, hilflos wie ich es nie erlebt hatte, war fast mehr, als ich ertragen konnte.
Ewald schüttelte lächelnd den Kopf. »Bedaure, das ist leider unmöglich«, antwortete er sanft. »Sie beide kennen meine Identität, wie ich begeistert feststellen darf. Kluger Junge. Allerdings hatte ich gedacht, dass Sie früher darauf kommen würden.« Er hob selbstsicher das Kinn. »Als ich erfuhr, dass Ihr Labor Proben des ‚Weißen Goldes‘ analysiert hat, wusste ich, dass jemand die Lilien im Keller gefunden haben musste. Und es war klar, dass nur Sie beide in Frage kommen. Niemand sonst hat mit dem Fall zu tun.« Sein Blick wanderte von mir zu Mirella und ich sah, wie ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. »Sie wissen um mein Geheimnis. Und deshalb müssen Sie sterben. Beide. Bedauerlich, aber wahr.«
Dann sah er zu mir zurück. »Lassen Sie das Gefuchtel mit der Pistole, Roth«, sagte er ungeduldig. »Wenn Sie schießen, werde ich das hier durchschneiden.« Er deutete auf ein kleines Kabel, das aus der Wand ragte, und erst jetzt sah ich, dass er eine Kneifzange in der Hand hielt. »Der Fahrstuhl wird sich in Bewegung setzen. Ganz langsam nach oben schweben. Und Ihre Angebetete wird einem furchtbar unschönen Tod entgegensehen. Das können Sie nicht wollen, nicht wahr? Also, nehmen Sie die Waffe runter. Jetzt!«
Ich blickte zu Mirella hinüber, die mich anstarrte, die Augen weit vor Panik. »Leg die Pistole hin«, hörte ich sie flüstern. »Bitte, mach, was er sagt. Er meint es ernst.«
Ich presste die Lippen aufeinander, legte die Waffe vorsichtig vor mir auf den Boden, richtete mich auf und streckte die Hände zur Seite aus. »Gut. Und jetzt?«
Ewald lächelte. »Schieben Sie die Pistole mit dem Fuß von sich weg. Ganz vorsichtig. Hierher, zu mir.«
Ich tat, was er wollte, und die Pistole rutschte über den schmutzigen Boden direkt vor seine Füße. Ewald beugte sich hinunter, ohne mich aus den Augen zu lassen, und nahm die Waffe auf. »Schönes Stück. Gut gepflegt. Besser als die Ihrer Freundin. Trotzdem werde ich die andere behalten. Wir haben uns jetzt schon so schön aneinander gewöhnt.« Er legte meine Pistole hinter sich auf die Fensterbank und zog lächelnd Mirellas Waffe aus der Jackentasche.
»Sie werden damit nicht
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