Die dunkle Seite des Weiß
mein Gesicht. »Hier ist von unserem Atem nichts zu sehen. Weil es wärmer ist. Nur hier, in diesem Raum.«
Mirella starrte mich an. »Du hast recht«, sagte sie.
»Warte einen Moment.« Ich ging zurück durch die Tür, spürte erneut das fast unmerkliche Spinnennetz auf meinem Gesicht, atmete mit offenem Mund aus – und sah, wie sich Wasserdampf in weiten Kreisen von meinem Mund zur Decke kräuselte. Ich eilte in den Raum zurück.
»Was macht deine Uhr?«, rief ich Mirella zu, während ich zu einer Kerze hinüberging.
Mirella hob überrascht die Brauen. »Meine Uhr? Was soll mit der sein …« Sie warf einen Blick auf das Ziffernblatt und verstummte augenblicklich. »Sie steht still«, sagte sie dann leise.
»Dachte ich es mir doch!« Ein wildes Lachen stieg unaufhaltsam in mir auf. Es war verrückt. So einfach und doch so genial. Und ich hatte es die ganze Zeit übersehen.
»Jakob, was ist hier los?« Aufgeregt kam Mirella zu mir herüber und fasste mich am Arm.
»Es ist dieser Raum«, rief ich. »Siehst du die Kerze? Pass auf.«
Ich ging zu einer der Kerzen hinüber, beugte mich vor und versuchte, sie auszupusten. Die Flamme flackerte nicht einmal. Die Kerze stand so still, als gehörte sie zu einem Gemälde. »Siehst du?« Dann ergriff ich den Kerzenständer und trug die Kerze vorsichtig vor mir her, raus auf den Gang.
»Aufgepasst«, rief ich Mirella zu. Vor der Tür angekommen wiederholte ich meinen Versuch, pustete leicht – und die Flamme erlosch. Ein feiner Faden aus Rauch stieg auf.
Mit ungläubigem Gesichtsausdruck kam Mirella zu mir hinüber und musterte die Kerze. »Glaubst du, was ich glaube?«, flüsterte sie.
Ich stellte die Kerze vorsichtig auf den Boden. Dann blickte ich Mirella an. Eine wilde Aufregung hatte mich erfasst. Und ich wusste, ihr ging es ebenso. »Die 100jährige Leiche, die aussieht wie 17. Längst ausgestorbene Lilien, die blühen, als hätte man sie erst heute früh gepflückt. Kerzenflammen, die nicht verlöschen.« Und das Gefühl, durch ein unsichtbares Tor zu schreiten, fügte ich in Gedanken hinzu. Ich straffte mich. »In diesem Raum steht die Zeit.«
*
»Ich fasse das einfach nicht!« Mirella konnte sich kaum beruhigen, als wir nebeneinander zum Auto zurückgingen. »Ein Raum, in dem die Zeit nicht vergeht. Während der Ausbildung habe ich in einer Vorlesung gehört, dass es so etwas geben soll. Aber so etwas in der Realität zu erleben …« Sie stockte und wurde ernst. »In der Forschungsliteratur steht, dass zeitlose Räume nur entstehen, wenn an diesem Ort fürchterliche Verbrechen begangen wurden. Quasi eine Resonanz auf das Unrecht, das nicht weitergeführt werden darf.«
Ich nickte stumm. Man konnte sich viele Szenarien ausmalen, die in der ehemaligen Klinik zur Entstehung des Raumes ohne Zeit geführt hatten. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich das wollte.
»Auf jeden Fall ist es so kein Wunder, dass Clara von Rieckhofen nicht älter wurde«, sagte ich.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mirella die Lippen zusammenpresste. »Heißt das, sie ist wirklich schon vor 100 Jahren gestorben? Und nur jetzt gefunden worden? Oder lebte sie die ganze Zeit in diesem Raum und …« Ihre Stimme stockte und ich konnte fühlen, wie ein Schauer des Entsetzens über ihre Seele lief.
»Wir können nicht mit Sicherheit ausschließen, dass sie gefangen gehalten wurde.« Ich schluckte schwer. »Möglich wäre es. Aber dann hätte sie noch gelebt, als die Jugendlichen die Tür geöffnet haben. Oder nicht?«
Mirella zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich weiß nicht? Welche Gesetze gelten in einem Raum ohne Zeit? Einmal angenommen, sie war dort eingeschlossen und hat es irgendwann nicht mehr ertragen.« Mirellas graue Augen richteten sich fest auf mich. »Kann man sich in einem Raum ohne Zeit umbringen? Würde das funktionieren?«
Abrupt blieb ich stehen. War Clara bereits tot gewesen, als sie in den Raum gebracht wurde, oder hatte sie jahrelang dort gelebt? Hatte sie sich selbst getötet, oder war sie durch die Hand eines anderen gestorben? Zu viele Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Auch dieses Mal war mein Versuch, mich in die Atmosphäre des Raumes hineinsinken zu lassen und ihm so die Geheimnisse der Vergangenheit zu entlocken, gescheitert. Ich bekam keinen Zugang. Es war mehr als frustrierend, lag aber wahrscheinlich an der stillstehenden Zeit, die wie eine unerbittliche Mauer alles abblockte, was sie zu überwinden versuchte. Und somit auch mich.
Ich
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